Isaak – Always On The Run
Die gute Nachricht zuerst: Die Buchmacher lagen schon oft genug daneben. Jetzt die schlechte: Meistens lagen die Buchmacher richtig. Im Großen und Ganzen zumindest. Für die Chancen von Isaak, der am kommenden Samstag Deutschland mit “Always On The Run” beim diesjährigen ESC vertritt, bedeutet dies:
Wieder weit hinten?
Die Wahrscheinlichkeit, dass der deutsche Beitrag wie so oft auf den hinteren Plätzen landet, ist gewaltig. Zumindest deutlich größer, als dass er einen der vorderen Plätze einheimst. Von einem Sieg gar nicht erst zu träumen. Der gelang Lena, immerhin schon 14 Jahre her, und Nicole, die vor satten 42 Jahren das Unmögliche möglich machte. Das war es dann auch schon aus deutscher Sicht.
Seit 1956 gibt es den ESC, der ursprünglich Grand Prix Eurovision de la Chanson hieß und erst seit 1992 auf den Namen Eurovision Song Contest hört. Deutschland gehört mit Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, den Niederlanden und der Schweiz zu den Gründern dieses illustren Wettbewerbs, ist also von Anfang an dabei.
Nur einmal ohne deutsche Beteiligung
Kenner wissen: Lediglich 1996 fand der ESC ohne deutsche Beteiligung statt. Da ließ die Jury den deutschen Beitrag „Blauer Planet“, gesungen von einem gewissen Leon, nicht für’s Finale zu. Weil zu viele Länder an den Start gehen wollten, wurde auch der deutsche Beitrag kurzerhand aussortiert. Etwas, was wohl nicht wieder vorkommen dürfte. Denn Deutschland stellt mit Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien die größte Zuschauermenge. Ohne deutschen Beitrag bekommt der ESC hierzulande kaum Einschaltquoten, wie 1996 deutlich festzustellen war. Und die Einnahmen durch die kostenpflichtige (!) Online-Abstimmung gehen dadurch in den Keller.
Apropos Geld: Deutschland gehört zu den Haupt-Geldgebern des ESC. Frei nach dem Motto „Keine Feier ohne Meier“ könnte im Finale eine Nicht-Berücksichtigung eines deutschen Beitrags möglicherweise auch Auswirkungen auf den künftigen Zahlungswillen des NDR, der ja wie üblich die ARD vertritt, haben.
Die bisherige Bilanz
Wie auch immer: Bei bislang insgesamt 67 Teilnahmen kamen zwei deutsche Siege heraus, 4 zweite, 5 dritte und 4 vierte Plätze. In die Top Ten kamen deutsche Beiträge 36 mal; nicht in die Top Ten beinahe genauso oft. Wer noch genauer hinschaut, stellt fest: Rund ein Fünftel aller deutschen Platzierungen erreichten nicht einmal die Top Twenty.
Internationales Autorenteam
Sicher ist: Schon am kommenden Samstagabend, also am 11. Mai 2024, ist diese Statistik überholt – egal auf welchem Platz Isaak mit „Always On The Run“ landen wird. Auf dem Papier stehen die Chancen gar nicht mal so schlecht: Denn Isaak Guderian, so der Sänger mit vollem Namen, hat seinen Beitrag zusammen mit zwei echten Profis geschrieben: nämlich mit Greg Taro, seines Zeichens selbst ein etablierter Musiker und zudem Bruder von Álvaro Soler, der ja wiederum bekanntermaßen weiß, wie man erfolgreiche Songs schreibt. Unterstützung erhielten die beiden durch Kevin Lehr, Freunden der Musik aus der Alpenrepublik Österreich als Mitglied der Band „Tagtraeumer“ bekannt, die durchaus erfolgreich an der Castingshow „Herz von Österreich“ teilnahm. Das Quartett der Autoren komplettiert der finnische DJ und Produzent Leo Jupiter. Um den Musikgeschmack von ganz Europa abzubilden, fehlen im Autorenteam eigentlich nur noch ein Osteuropäer sowie ein Südeuropäer – kleiner Scherz am Rande.
Das böse Wort „shit“
Jetzt aber endlich zum deutschen Beitrag „Always On The Run“. Da gibt es nämlich eine Zeile, die es nicht gibt, genauer: eine Zeile, die im Original – und damit auch im deutschen Vorentscheid – enthalten war, von der ESC-Jury im Vorfeld aber als zu anstößig empfunden wurde:
„No one gives a shit about what’s soon to come“.
Auf Deutsch etwa:
„Niemand schert sich einen Dreck darum, was bald passieren wird.“
Das böse Wort „shit“ geht ja nun gar nicht, befanden die ESC-Wettbewerbshüter und bestanden auf Änderung. Das könnte nämlich den Wettbewerb allgemein in Misskredit bringen, so die Begründung. Ehrlich jetzt? Ja, ehrlich! Und deshalb wird Isaak das böse Wort vernuscheln oder irgendwie anders umgehen – also wenigstens etwas, worauf wir abgesehen von der von den Buchmachern prognostizierten schlechten Platzierung gespannt sein dürfen.
Always On The Run
Ansonsten singt Isaak klar und deutlich verständlich:
„Ich bin nichts als Durchschnitt,
auch wenn ich für manche etwas Besonderes bin.
Ich kann mich nicht weigern, also gehe ich unter.
Niemand schert sich einen Dreck um das, was bald kommen wird.
Ich weiß, dass ich mit Privilegien gesegnet bin,
dass ich alles tun kann, was ich will.
Aber ich habe keine Lust, stärker zu werden.
In meinem Kopf ist es nur ein Spiel, das nicht gewonnen werden kann.“
Achterbahn der Gefühle
Auch wenn es sich so anhört: Isaak singt nicht über seine Chancen beim ESC 2024. Stattdessen geht es um das Auf und Ab von Gefühlen, um Selbstzweifel und Selbstvertrauen, wie es nahezu jeder in seinem Leben schon einmal erlebt hat. Und genau das setzt das Autorenteam großartig um: Momente, die von Positivem im Leben handeln, werden kraftvoll vorgetragen. Da unterstreicht die Komposition die ganze Lebensfreude des Interpreten. Deutlich ruhiger und fast schon ein wenig melancholisch wird es immer dann, wenn Isaak von Schattenseiten im Leben und von Trauer singt.
Ambivalenz des Lebens
Da gibt es Momente, in denen man übersprudeln könnte vor Glück – und leider auch gibt es Situationen, in denen man am liebsten davonlaufen würde. Von himmelhochjauchzend bis hin zu Tode betrübt ist es eben nur ein kurzes Stück, wie der alte Goethe schon wusste. Oder anders formuliert: Licht und Schatten, Erfolg und Misserfolg, Freude und Trauer liegen im Leben nun einmal nah beieinander.
Resignation bis zum Geht nicht mehr
Gerade aber die negativen Momente im Leben brennen sich ein, werden zu einer Belastung, die einfach nicht mehr verschwindet. In „Always On The Run“ hört sich das so an:
„Alles, was ich tue, ist, meinen Kopf oben zu halten.
Aber es ist schwer, das Tempo zu halten.
Es ist, als ob ich von den Stimmen tief im Inneren verfolgt werde.
Sie wollen einfach nie verklingen.
bin nah dran, aber nie fertig!
Ich kann nicht ausbrechen, wenn ich frei bin.
(Deshalb bin ich) verloren in meiner eigenen Identität
Ich bin auf der Flucht, laufe, laufe, laufe.“
Wofür eigentlich?
Spätestens dann stellt sich die Frage: Was soll das alles? Oder wie Isaak singt:
„Ich laufe aus der Stille schreiend nach Führung.
Für wen kämpfe ich?
Geh mir aus dem Kopf!
Ich bin so krank und müde.
Ich kann das nicht mehr tun!“
Karriere im Aufwind
Ganz schön heftig für einen 28jährigen, so am Ende zu sein (- auch wenn er nur darüber singt!). Und das nach einer durchaus beachtlichen Karriere: Früh lernt der Junge das Gitarren- und Klavierspiel. Schon während seiner Schulzeit betätigt sich Isaak als Straßenmusiker. Um inmitten des Straßenlärms gehört zu werden, muss er sich anstrengen, trainiert dabei aber auch seine Stimme. Die ist kraftvoll, intensiv und ausdrucksstark und erinnert in ihrer manchmal kratzigen Art an Interpreten wie den Rag ‘n‘ Bone Man. 2011, knappe 16 Jahre alt, nimmt Isaak an der Castingshow „X Faktor“ teil, tritt von da an quasi hauptberuflich bei Veranstaltungen und Festen auf, um 2021 an der digitalen Show „Show Your Talent“ teilzunehmen und diese auch zu gewinnen.
Vorentscheid gegen Max Mutzke und Ryk
Die Teilnahme an der Vorentscheidung des ESC war sein bislang größter Coup. Dass er die gegen die favorisierten Kollegen Max Mutzke und Ryk gewann, schreibt Isaak seiner eigenen Einstellung zu: Er sei nämlich ohne Erwartungen in den Vorentscheid gegangen, habe alle Analysen und Spekulationen an sich abprallen lassen und so vermieden, sich selbst unnötigen, vielleicht lähmenden Druck aufzubauen. Was augenscheinlich großartig funktioniert hat. Denn so habe er 100 Prozent geben können.
Musik als Zufluchtsort
100 Prozent geben – das will Isaak, übrigens zweifacher Vater, auch am kommenden Samstag in Malmö. Und alles dafür tun, um Platz eins zu erreichen. Falls das nicht gelinge, sei das auch nicht schlimm. Dabei zu sein ist ohnehin sein bislang größter Erfolg. Der kann seine weitere Karriere nur beflügeln, meint der Mann aus dem ostwestfälischen Espelkamp bei Minden. Ohnehin sei Musik der einzige Zufluchtsort, an der er so sein könne, wie er wirklich sei, sagt Isaak selbst. Dort gebe es keine Schubladen, sondern pure Emotionen. Emotionen, die auch diejenigen verstünden, die eine ganz andere Sprache sprächen. Vielleicht liegt ja genau darin die große Chance des Sängers, den die Buchmacher bereits unter „ferner liefen“ eingestuft haben und auf einer ähnlichen Stufe sehen wie Deutschlands Vertreter beim ESC in Liverpool, Lord Of The Lost: Die landeten nämlich auf dem letzten Platz.
Authentisch sein
Seine Emotionen rüberbringen, gar nicht erst versuchen, sich so zu verbiegen, wie es den Menschen gefällt, sondern authentisch und vor allem selbst begeistert zu sein – das ist die Devise, unter der Isaak auch am Samstag antreten will. Schließlich gilt immer noch: Wer selbst begeistert ist, hat es leichter, auch andere zu begeistern. Deshalb wird er auch als er selbst auf der Bühne stehen und nicht in irgendeine Rolle schlüpfen. Dazu gehört auch, dass er als „Mann am Mikrophon“ wahrgenommen werden wird und definitiv nicht als Tänzer.
Isaak = Gott lacht
Und wer weiß: Vielleicht macht der Sänger am Samstag ja seinem Namen in ganz besonderer Weise alle Ehre. Der stammt nämlich aus der Bibel und bedeutet „Gott lacht“. Nicht auszudenken, wenn Isaak am späten Samstagabend ebenfalls lachen könnte. Und mit ihm nicht nur Espelkamp, sondern am besten ganz Deutschland. Am späten Samstagabend wissen wir mehr. Auch, ob die Buchmacher gewaltig danebenlagen, was wir natürlich hoffen. So oder so: Auf der Flucht wird Isaak danach immer noch sein – im Idealfall lediglich vor seinen Fans.
Der bei Radio Salü gesendete Beitrag ist eine Kurzfassung dieses Textes.
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