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Blunt, James – The Girl That Never Was

Allerheiligen, Allerseelen, Volkstrauertag, Buß- und Bettag, Totensonntag – im November ist bei uns nicht nur das Wetter zumeist ziemlich trüb. Im November ballen sich auch die Feier- und Gedenktage, an denen das Totengedenken und das Gebet für Verstorbene im Mittelpunkt stehen. Kein Wunder, dass der November den Charakter eines Trauermonats hat.

Tabuthema Tod

Auch wenn sich das in den letzten Jahrzehnten abgeschwächt hat, ist doch der November der Monat, in dem Tod und Sterben einen besonderen Platz in der öffentlichen Wahrnehmung einnehmen. Viele Menschen richten die Gräber ihrer Verstorbenen her und denken an den Gräbern in besonderer Weise an liebe verstorbene Angehörige. Tod und Sterben – sie gelten das Jahr über als Tabuthema, um das man, solange nicht der engste Familien- oder Freundeskreis betroffen ist, am liebsten einen großen Bogen macht. Im November ist das alles anders. Da darf man auch über derartige Tabuthemen reden, ohne in gesellschaftlich verpönte Fettnäpfchen zu treten.

Plötzlicher Kindstod

Was für Otto Normalverbraucher gilt, gilt auch für Musiker. Ende Oktober hat James Blunt sein neues Album „Who We Used To Be“ vorgestellt. Darauf enthalten ist „The Girl That Never Was“ – ein Song, der sich auf besondere Weise mit dem Thema Tod und Sterben beschäftigt. Was gut zum Totenmonat November passt, passt noch besser zum Oktober: Denn der ist den Menschen gewidmet, die von einer Fehl- oder Todgeburt betroffen sind oder ein Kind durch den so genannten „Plötzlichen Kindstod“ oder aus einem anderen Grund verloren haben. Für die, die es genauer wissen wollen: Von einer Fehlgeburt sprich man üblicherweise bei einem Verlust vor der 20. Schwangerschaftswoche, von einer Totgeburt ab der 20. Schwangerschaftswoche oder später. Wohl auch, um der Totgeburt etwas von ihrem Schrecken zu nehmen, sprich man bei uns in Deutschland immer häufiger von „stiller Geburt“.

Emotionale Höchstbelastung

Was die wenigsten wissen: Verschiedene Erhebungen gehen davon aus, dass knapp ein Drittel aller Schwangerschaften vorzeitig enden – also deutlich mehr, als man normalerweise vermuten würde. Für Betroffene, egal ob Einzelpersonen oder Familien, bedeuten solche Verluste eine massive emotionale Belastung. Mögliche Hilfen sind oftmals nicht bekannt; grundsätzlich sind entsprechende Institutionen vielfach mit zu geringen Ressourcen ausgestattet. Und das gesellschaftliche Bewusstsein für derartige Notlagen ist insgesamt viel zu gering ausgeprägt.

You’re beautiful

Rückblende: 2005 singt der damals 31jährige James Blunt voller Inbrunst: „My life is brilliant, my love is pure…“ „You’re Beautiful“ wird zum Treibsatz der Bluntschen Karriere, wenngleich sich auch Häme in die Beurteilung des Videoclips mischt: Dass ein Langhaariger mit nacktem Oberkörper auf schneebedecktem Untergrund sitzt und mit weinerlicher Stimme singt, lässt den Song für das deutsche Empfinden auch in die Nähe des Kitsches rücken. Vielleicht ist es tröstlich, dass das Englische gar kein Wort kennt, das auch nur annähernd den Inhalt des deutschen Wortes Kitsch wiedergeben könnte. Und selbst wenn, könnte dies den Erfolg von James Blunt Riesenhit nicht schmälern. Ein Erfolg, der in der westfälischen Stadt Soest besondere Beachtung erfährt.

Soldat James Blunt

Auch wenn kaum ein Soester jemals James Blunt kennengelernt hat, gilt er doch als einer von ihnen: Schließlich war Blunts Vater Soldat der britischen Rheinarmee, was dazu führte, dass Klein-James rund zehn Jahre seiner Kindheit bzw. Jugend in der Nähe von Soest verbrachte. Eine Tatsache, die in späteren Rezensionen immer wieder erwähnt wurde. Und natürlich auch, dass James, ganz in der Tradition von Vater und Vorvätern, ebenfalls eine militärische Laufbahn einschlug und Berufssoldat wurde. Im Verlauf seiner sechsjährigen Militärdienstzeit brachte er es bis zum Captain, war zwischenzeitlich im Kosovo stationiert, wo er bei der Einnahme des Flughafens von Pristina aktiv an Kampfhandlungen beteiligt war. Eine große Ehre war die Berufung in die Ehrenwache bei der Beerdigung von Queen Mum im März 2002.

Liebe, Leben, Kriege…Sofia

Dass James Blunt ein Händchen für sanfte Melodien und emotionale Texte hat, zeigte sich bereits während seiner Dienstzeit im Kosovo: Denn dort entstand die Urversion des späteren Hits „No Bravery“.

Zurück in die Gegenwart: Er schreibe über das Leben und die Liebe, Höhen und Tiefen, Abhängigkeiten, Kriege, seine Kinder und seine Frau, sagt James Blunt im Interview mit der dpa. Seit neun Jahren ist er mit Sofia Wellesley verheiratet. Um die dreht sich auch die aktuelle Single „The Girl That Never Was“ – allerdings eher indirekt.

The Girl That Never Was

„Ich weiß, wir haben einmal zu oft darüber gesprochen,
wie etwas in unserem Leben fehlte:
ein kleines Leben.
Also haben wir es versucht.
Es war mehr als nur ein Glitzern in deinen Augen.
Aber manche Dinge hast du einfach nicht in der Hand.
Zumindest haben wir es versucht.
Das erste Opfer des Lebens ist der Plan.
Wenn ich zurückblicke, bin ich nicht einmal sicher,
dass wir nachgedacht haben.“

Fehlgeburt und belastende Schuldfrage

Die traurige Geschichte hinter dem Song: Sofia und James haben zwei Söhne, wünschten sich aber ein drittes Kind. Vielleicht sogar ein Mädchen. Doch Sofia erleidet eine Fehlgeburt, die beide, Sofia und James, bis ins Mark trifft. Wie die meisten werdenden Eltern hatten sie sich unbändig auf ihre Tochter gefreut. Umso größer ist die Trauer der beiden. Und die Suche nach einem Grund. Diese Suche wird zu einer Frage nach der Schuld.

„Was mich umbringt, ist,
dass du versuchst, die Schuld auf dich zu nehmen.
Du bist nicht schuld!“

Und:

„Wir hätten nie einen Namen wählen sollen.
Denn jetzt hat sie ein Gesicht.“

Was wäre, wenn…

Also tun die Blunts genau das, was viele andere Eltern mit demselben Schicksal

auch tun: Sie stellen sich ihre Tochter vor. Zum Beispiel wie sie als Heranwachsende, als junge Frau leben würde:

„Sie tanzt wahrscheinlich mit ihrem blonden Haar,
dass wie Bänder auf ihre Schultern fällt.
So wie wir sie immer sahen:
Mit leuchtenden Augen,
wie sie sich im Sonnenlicht im Kreis dreht.“

Das bedrückende an dieser Vorstellung findet im Songtitel seinen knappen, niederschmetternden Niederschlag: Es ist

„ein Mädchen, das es nie gab!“

Das aber bedeutet:

„Ich weiß, wir werden dich nie kennen.
Ich weiß, wir werden dich nie (in meinen Armen) halten.
Ich konnte dir nie meine Liebe zeigen!“

Keine Antwort

Über den Tod eines Menschen zu sprechen, gilt in unserer Gesellschaft als Tabuthema. Insbesondere gilt dies für den Tod eines ungeborenen Menschen. Die bittere Konsequenz: Eltern bleiben mit ihrem Schmerz, mit ihren zerstörten Hoffnungen, mit ihren Plänen für ihr Leben allein. Vor allem die Frauen seien es, so James Blunt, die das Haupttrauma der Fehlgeburt durchleben und zu tragen haben. Partner, Freunde, Verwandte müssen für sich selbst herausfinden, wie sie am besten helfen können. Er, so Blunt, wisse nicht immer die richtige Antwort.

Jessica Grist, James Arthur und Emily

The Girl That Never Was“ schriebt James Blunt gemeinsam mit dem Songwriterduo Red Traingle. Die haben bereits einen anderen Song zum Thema „Fehlgeburt“ geschrieben, und zwar „Emily“ für das Album „It’ll All Make Sense In The End“ von X-Factor-Gewinner James Arthur. Einen gleichnamigen Song hatte James Arthur geschrieben, bevor die Tänzerin Jessica Grist, Partnerin von James Arthur, ihr ungeborenes Kind verlor. Mittlerweile sind die beiden glückliche Eltern einer Tochter, die sie – manch einen mag es grausen; warum eigentlich? – wieder Emily nennen.

Vielleicht rührt daher die Textzeile bei James Blunt:

„Keiner wird ihren Platz einnehmen.“

Vielleicht ist diese Zeile aber auch nur eine Formulierung, die sagen soll: Wir werden dieses ungeborene Mädchen nie vergessen!

Ihr seid nicht allein

Üblicherweise versuche er, sein Privatleben privat zu halten, so James Blunt auf Instagram. Dass er sich in diesem speziellen Fall einen sehr privaten Teil seines Lebens öffentlich macht, hat einen banalen Grund: Sofia und James haben erfahren, dass die durchlebten Traumata nur schwer in den Griff zu bekommen sind. In den seltensten Fällen lässt eine Fehlgeburt die Eltern wieder los. „The Girl That Never Was“ soll Menschen mit demselben Schicksal zeigen: Ihr seid nicht allein. Es geht auch anderen Menschen so wie euch.

Liebe als Garant

Doch dabei bleibt der Song nicht stehen: Trotz des Schmerzes, trotz der berechtigten Trauer und trotz der notwendigen Trauerarbeit besteht die Notwendigkeit, nicht stehen zu bleiben, sondern einen Weg nach vorn zu finden. Die Liebe zwischen den beiden Eltern ist der Garant dafür, dass es gemeinsam weitergehen kann. Und obwohl für sie das Leben weitergeht, dürfen die verstorbenen Ungeborenen einen Platz in ihrem Herzen behalten. Eben auch dann oder vielleicht erst recht, weil sie nie geboren wurden.
James Blunt und „The Girl That Never Was“.

Hinweis: Am 20. Februar 2024 beginnt James Blunt eine großangelegte Tournee, bei der er nicht nur eine Reihe von Terminen in Großbritannien spielt, um dann auch durch Kontinentaleuropa zu touren, darunter auch in Deutschland.

Der bei Radio Salü gesendete Beitrag ist eine Kurzfassung dieses Textes.

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