Strummer, Joe & Mescaleros, The – Tony Adams
Als sich The Clash auflösten, stand Joe Strummer vor einer Art Scherbenhaufen. Aber aus ein paar zerbrochenen Scherben kann man mit einer ganzen Menge Kitt immer noch ein Kunstwerk hervorbringen. Was Joe Strummer mit den Mescaleros auf hervorragende Weise gelungen ist. Allerdings gab schon das erste Album „Rock Art And The X-Ray Style“ Rätsel auf. Genauer: der erste Song.
Chelsea über Arsenal?
Denn der hieß „Tony Adams“. Wieso heißt ein Song „Tony Adams“, wenn dieser Name lediglich am Ende des Songs vorkommt. Und es zwischendurch nichts gibt, was mit diesem Namen bzw. der Person dahinter zu tun zu haben scheint?
Fußballfans fanden schnell einen Zugang: Denn besagter Tony Adams war 19 Jahre lang Profifußballer beim Londoner Fußballclub Arsenal. Was natürlich sofort die nächste Frage nach sich zog: Wie konnte Joe Strummer, in dessen Adern bekanntlich Chelsea-blaues Blut floss, einen Song über einen Spieler des Lokalrivalen schreiben? Und noch dazu einen mit so einem merkwürdigen Text?
Momentaufnahmen
Kleine Kostprobe:
„Späte Nachricht, die gerade reinkommt:
Heute Nacht gab es einen Stromausfall in der Stadt des Wahnsinns
und alle Gespräche erstarben im Ausbruch einer Sonneneruption.
In der Dunkelheit gewann ein Engel den Schönheitswettbewerb.
Stroboskopische Schneeflocken fielen aus der Stratosphäre
und das ganze Neon blies den funky Broadway hinunter
und schloss die Ostküste kurz.
Nur Saxophone und Strandposaunen –
Wir sind übriggeblieben, um zu rufen:
Wir alle brauchen ein bisschen mehr.“
Kryptisch, aber Momentaufnahmen, wie Joe Strummer sie gelegentlich in seine Songs packt. Eindrücke, die erst einen Moment später erkennen lassen, warum sie vom Songwriter ausgewählt wurden, wenn es heißt:
„Ich warte auf die Strahlen der Morgensonne
Jemand sage mir klar: Hat die neue Welt begonnen?
Lasst alle jammern, lasst den Trommler trommeln.
Wir warten auf die Strahlen der Morgensonne, hey, die Morgensonne
Hat jemand die Morgensonne gesehen?“
Untergangsszenario
Ganz langsam wird deutlich: Es geht um eine Welt, die im Sterben zu liegen scheint. Ein Untergangsszenario, wenn man so will. Und obwohl alles verloren zu sein scheint, gibt es einen – im wahrsten Sinne des Wortes – Hoffnungsschimmer: Die Strahlen der Morgensonne, Symbol für Licht und
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neues Leben, könnten kommen und alles zum Guten wenden.
Klingt gut, klingt nach einer Portion Hoffnung. Aber eine Erklärung, warum dieser Song „Tony Adams“ heißt, ist das noch lange nicht. Die gibt Joe Strummer selbst: In England sei es völlig normal, eine neue Band anzuhimmeln und sie nur wenig später wieder fallenzulassen. Es sei eben typisch englisch, Menschen fallenzulassen. Als ekelhaft, als bösartiges Verhalten und Krankheit bezeichnete Strummer diese seiner Ansicht nach typisch englische Handlungsweise. Und Tony Adams?
Wieso „Tony Adams“?
Der war ein begnadeter Fußballer, wird beim FC Arsenal bis heute als einer der besten Spieler der Vereinsgeschichte angesehen, holte mit und für seinen Club Liga-Pokal, FA Cup und sogar den damaligen Europapokal der Pokalsieger. Und wer weiß, was noch möglich geworden wäre, wenn nicht bei der Europameisterschaft 1996 im Halbfinale ein Elfmeterschießen gegen Deutschland das Aus bedeutet hätte. Damals, in einer Zeit, in der Gary Lineker noch wusste, dass Fußball doch dieses Spiel ist, an dessen Ende die Deutschen gewinnen. Und in der Fußballfans wussten, dass England und ein Elfmeterschießen wie zwei Dinge von zwei diametral ausgerichteten Planeten sind…
genialer Fußball, Trinker und Choleriker
Aber es gab auch eine andere Seite des Fußballer Tony Adams: dieser Tony Adams mischte in Pubs immer mal wieder ordentlich auf, trank immer mehr als nur einen über den Durst, setzte sich mehrfach betrunken ans Steuer und landete deswegen sogar im Knast. Der auf dem Fußballplatz ach so große Tony Adams, der irgendwann klein und reumütig seine Alkoholabhängigkeit öffentlich eingestehen musste. Wie sagte Joe Strummer noch: Typisch englisch sei es, jemanden fallenzulassen. Und:
„Ich habe ein Lied über das geschrieben, was ‚Tony Adams‘ heißt: Niemand in diesem verdammten Land erhob sich, als ihm die englische Armbinde verweigert wurde, während er seinen eigenen Kampf gegen den Alkoholismus gewann. Die Leute denken vielleicht, Footy sei banal, manchmal sind banale Dinge wichtig. Wir brauchen Leute wie Tony Adams.“
Typisch Strummer: gegen Ungerechtigkeiten
Mit seinen Songs kämpfte Joe Strummer immer wieder gegen Ungerechtigkeiten in der Welt an: gegen Rassismus, gegen die Umweltzerstörung… und gegen die Zerstörung einzelner Menschen wie Tony Adams.
Adams, obwohl abgeschrieben, obwohl aus dem Nationalteam verbannt, kämpfte gegen seine Sucht an. Positive Unterstützung erhielt er ab September 1996: Denn da verpflichtete Arsenal als Trainer den mittlerweile legendären Arsène Wenger. Der führte Ernährungsvorschriften ein, professionalisierte den Lebensstil der ihm anvertrauten Profifußballer und unterstützte Tony Adams maßgeblich bei seinem Kampf gegen den Alkoholmissbrauch. Wenger ist es zu verdanken, dass Adams auf den Platz zurückkehrte und der erste Kapitän wurde, der eine englische Mannschaft in drei aufeinanderfolgenden Jahrzehnten zu Meistertiteln führte.
Autobiographie
Die von Joe Strummer besungene Morgensonne war für Tony Adams aufgegangen. Auch, weil er sich selbst bemühte: Er änderte gemäß den Hilfestellungen seines Trainers seinen Lebensstil, bildete sich weiter, begann sogar, das Klavierspielen zu erlernen. 1998 veröffentlichte er eine Autobiographie, Titel „Addicted“, in der er offen über seinen schier aussichtslosen Kampf gegen seine Alkoholabhängigkeit schrieb. Um mit Joe Strummer zu sprechen: Für diese Offenheit himmelte ihn die englische Gesellschaft an. Ihm ist es zu verdanken, dass in der englischen Gesellschaft über Themen wie Abhängigkeit und Sucht weit offener gesprochen werden konnte als zuvor.
Diplomatensohn
Strummer, bürgerlich John Graham Mellor, wurde als Sohn eines britischen Diplomaten geboren, verachtete aber seine Herkunft und (nicht nur aus Standesdünkel herrührende) Ungerechtigkeiten. Er wurde zu einer Ikone des Punks, schrieb aber Songs, die nichts mit der zum Teil üblichen Anarchie zu tun hatten, sondern die eine tiefe Bedeutung hatten. Vielleicht ist es die Tatsache, dass Joe Strummer seine künstlerische Kraft für Gerechtigkeit und den Kampf für das Gute einsetzte, die seine Songs zu den beständigsten des britischen Punks werden ließen. Er beschrieb deprimierende oder gar hoffnungslose Situationen, verknüpfte dieser aber immer wieder mit der Hoffnung, dass am nächsten Morgen die Sonne wieder scheint, dass es eine Chance auf Besserung und Heilung gibt. Sogar dann, wenn niemand mehr an dich glaubt, jeder dich aufgegeben hat, so wie seinerzeit Tony Adams.
Joe Strummers & Les Mescaleros – Tony Adams.
Der bei Classic Rock Radio gesendete Beitrag ist eine Kurzfassung dieses Textes.
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