Osbourne, Ozzy – Patient Number 9
Er hat über 100 Millionen Platten verkauft, hatte Top-10-Alben in den letzten sechs Jahrzehnten und spielte vor Königinnen und Königen: Ozzy Osbourne ist zurück. Und um das gleich vorweg zu sagen: Wer noch auf der Suche nach einem Weihnachtsgeschenk ist, sollte Ozzys “Patient Number 9” berücksichtigen. Vorsichtiger Hinweis: Notfalls darf man sich so eine Hammer-Scheibe durchaus auch selbst schenken. Und das nicht nur zur Weihnachtszeit.
Wahnsinns-Besetzung
Wer jetzt schon das Geschenkpapier ein bisschen zur Seite zieht, der – Vorsicht, Spoiler! – wird bereits von der Besetzung begeistert sein. In Ermangelung einer festen Band – auch hier bremste Corona aus – führt die Aullistung der beteiligten Musiker zu heftiger Vorfreude: Wann sonst bekommt man schließlich die Gelegenheit, neben Ozzy die Gitarristen Jeff Beck, Eric Clapton und Pearl Jams Mike McCready, Metallica-Bassist Robert Trujillo, Sänger, Gitarrist und Pianist Zakk Wylde und den im März verstorbenen Foo Fighters-Schlagwerker Taylor Hawkins allesamt auf einem einzigen Longplayer zu hören? Sie alle kamen, um Ozzy die Ehre zu erweisen. (Und neben der Musik kräftige Argumente für die Bestückung der Päckchen unter dem Weihnachtsbaum zu liefern!) Dass Black-Sabbath-Saitenkönig Tony Iommi erstmals auf einem Ozzy Osbourne-Soloalbum zu hören ist, setzt dem Ganzen dann endgültig die berühmt-berüchtigte Krone auf.
Ozzy bleibt Ozzy
Musikalisch steht schnell fest: Der Mann muss sich nicht neu erfinden. „Patient Number 9“ präsentiert Ozzy Osbourne, wie er leibt und lebt, erinnert über weite Strecken frisch und lebendig – vielleicht auch dank AutoTunes? – an das Beste, was er seit den 1980er gemacht hat. Bei „Degradation Rules“ gibt es sogar eine Mundharmonika, die unweigerlich an „The Wizard“ aus frühesten Black Sabbath-Zeiten erinnert. Aber doch sind – wie auch schon bei „Ordinary Man“ – ein paar Songs dabei, die irgendwie anders sind. Wer nur zurückguckt, wird das nicht gut finden. Wer Weiterentwicklung für eine vernünftige Sache hält, wird das positiv sehen. Wenn auch ein wenig gewöhnungsbedürftig.
Unterm Strich bleibt: 74 Jahre alt ist der Mann. Kaum zu glauben, bei dem, was der selbsternannte „Prince of Darkness“ wohl so alles eingeworfen hat. Von seiner Parkinson-Erkrankung und seiner Nacken- und Wirbelsäulenoperation in diesem Jahr gar nicht zu reden.
Patient Number 9
Jetzt aber zum Kernstück, dem Titelsong „Patient Number 9“. Einerseits hat Ozzy darin seinen eigenen Krankenhausaufenthalt verarbeitet; andererseits aber auch den Selbstmordversuch seiner Frau Sharon, für die er nach eigenen Angaben diesen Song geschrieben hat. Lässt man sich auf den Text ein, kann es einem angst und bange werden.
„Gibt es einen Weg hier raus? – Hey, wie lange bist du schon hier?
Ich will nach Hause.
Entschuldigung, können Sie mir sagen, wie ich hier rauskomme?
Ich will nach Hause. Mama! Mama“
Trostlose Realität
Der Song führt in die Welt eines Patienten, der in einer psychiatrischen Klinik festgehalten wird; möglicherweise gegen seinen Willen. Übermächtig ist die Sehnsucht, die Klinik zu verlassen, wieder nach Hause zu gehen,
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ein Leben in Freiheit und Selbstverantwortung zu führen. Doch das scheint in weiter Ferne zu sein, wenn nicht gar unmöglich. Die Realität ist trostlos:
„Jeder Korridor ist weiß gestrichen wie Licht,
das dich hilfsbereit führen will.
Ich schließe Freundschaften mit den Fremden in meinem Kopf,
die mich gut zu kennen scheinen.“
Fremde im Kopf – Halluzinationen?
Sind das Halluzinationen? Oder ist das das verzweifelte Zurückgreifen auf Trugbilder, weil die Menschen der Realität zu Gegnern mutieren? Patient Nummer Neun hält sich nicht für verrückt. Anders die Mitarbeiter der Klinik. Die versuchen, Patient Nummer Neun von seiner Erkrankung zu überzeugen. Aber der hat längst begriffen:
„Wenn sie deinen Namen rufen, rennst du besser weg und versteckst dich
Sie sagen dir, dass du seelisch krank bist. Und du glaubst ihre Lügen.
Ich komme nicht raus, nein, hier komme ich nicht lebend raus.
Denn ich bin Patient Nummer Neun.“
Pfleger als Feinde
Die Pfleger sind längst als Feinde eingestuft. Also muss man das Gegenteil tun von dem, was sie verlangen. Oder sie zumindest entsprechend täuschen. Brav die Pillen schlucken? Eher nicht: Denn die Trugbilder im Kopf raten:
„Verstecke die Pillen in deinem Mund.
Schlucke sie runter, aber spucke sie wieder aus.“
Trotzdem bleibt die Situation beängstigend und… hoffnungslos. Oder wie Ozzy formuliert:
„Ich höre das Gelächter schreiend herausbrüllen:
Hier gibt es kein Morgen.“
Warum lässt Gott dieses Leid zu?
Eine schreckliche, gruselige Situation. In der Ozzy die Frage nach Gott stellt:
„Wenn die Wände einer Gummizelle zur Realität werden:
Wie viele Tränen braucht es, bis ich mich selbst ertränke,
weil niemand für mich weint?
Wenn es einen Gott gibt: Warum lässt er den Teufel sein Werk an mir tun?
Oh, ja, wenn es einen Gott gibt, was mache ich dann hier?“
Diskrepanz zum gütigen Gott
Warum lässt Gott das Leid in der Welt zu? Warum können Menschen die Städte und Dörfer anderer Menschen ungestraft zerbomben und in Schutt und Asche legen? Warum ist es möglich, dass Erwachsene, denkende Menschen, sich an Kindern, Frauen oder sonst wie Schwächeren vergehen? Warum sind Menschen so skrupellos und bringen andere durch Tricks und Täuschungen um ihre Ersparnisse, vielleicht sogar um ihre Existenz? Der Fragenkatalog ließe sich beliebig fortsetzen. Mit dem gütigen, gnädigen, um die Menschen besorgten Gott, von dem das Christentum spricht, lassen sich die vielfältigen Erfahrungen von Leid kaum in Einklang bringen. Oder? Auch die Antwort, dass ein Großteil des Leides von anderen Menschen verursacht ist, hilft nur wenig weiter. Wirklich schlüssige Antworten gibt es nicht. Da kann man schon verzweifeln. Und den Schluss ziehen: Mit einem Gott, der so einem Leid tatenlos zusieht, will ich nichts zu tun haben.
Glaubenszweifel
In gleich mehreren Songs des aktuellen Albums beschäftigt sich Ozzy Osbourne mit der Frage nach Gott. In „One Of Those Days“ bekennt er:
„Es gibt solche Tage, an denen ich einfach nicht an Jesus Christus glauben kann.“
Zu stark sind dann die Leiderfahrungen – und das für einen Ozzy Osbourne, der seit einigen Jahren der Bewegung „wiedergeborener Christen“ angehört.
Hiob als Vorbild
Für Menschen mit großen Leiderfahrungen hält die Bibel eine Lehrerzählung bereit: Der gottesfürchtige Hiob verliert seine Familie, seine Herden, seinen gesamten Besitz. Alten jüdischen Vorstellungen folgend ist klar: Er muss schlimme Dinge getan haben, wenn Gott ihn so straft. Das sagen letztlich auch Hiobs Freunde. Weil der sich aber keiner Schuld bewusst ist und jegliche Verantwortung abstreitet, wenden sich auch seine Freunde von dem anscheinend Uneinsichtigen ab. Und was tut Hiob? Er leugnet nicht die Existenz Gottes. Aber er beklagt sich bei ihm. Schimpft, trägt seinen Unmut vor Gott und macht dem klar: Genug ist genug. Alles, was du mir geschenkt hattest, hast du mir nun genommen. Damit reicht es dann auch. Mehr kann ich nicht ertragen.
Schwer im Alltag
Wie gesagt, eine Lehrerzählung, eine mit einem Happy End, bei dem Hiob seine Familie und seinen Besitz zurückerhält.
„Es gibt solche Tage, an denen ich einfach nicht an Jesus Christus glauben kann“,
singt Ozzy Osbourne. Was übertragen bedeutet: Es gibt Situationen, in denen das Tröstende „Bei Gott wird alles gut“ einfach meilenweit entfernt zu sein scheint. Situationen, bei denen es eine gewaltige Kluft zwischen der frommen Lehre und der Realität zu geben scheint. Ist aber die Lehre falsch, nur weil nach menschlichem Ermessen unerträglichen Dinge geschehen?
Der Mensch wird nie alles wissen. Denn: God Only Knows
Auch darauf gibt der Prince of Darkness eine Antwort, und zwar in einem weiteren Song seines Albums „Patient Number Nine“: Der heißt nämlich „God Only Knows” – Nur Gott weiß das.
So bleibt uns nichts anderes übrig, als vielleicht mit Schicksalsschlägen zu hadern. Und uns zu fühlen wie ein Mensch allein in einer Welt voller Idioten. Oder wie jemand, der in eine Irrenanstalt gesperrt wurde, weil er die Welt einen Moment nicht mehr ertragen konnte, aber ansonsten bei vollem Verstand ist. Aber auch das ist ein Zustand, der nicht das Ende bedeutet. Bekanntermaßen wird am Ende alles gut. Wenn es noch nicht gut ist, dann ist das auch noch nicht das Ende.
Ozzy Osbourne und „Patient Number 9“.
Der bei Classic Rock Radio gesendete Beitrag ist eine Kurzfassung dieses Textes.
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