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No Sports? Von wegen! Sportliches Glockenläuten bei einem anglikanischen Gottesdienst im UK (29. November)

Es ist schon eine Weile her, dass ich Freunde im englischen Cambridge besucht habe. Am Wochenende stand die Frage an: Wir möchten gerne einen Gottesdienst besuchen. Kommst du mit?“ Na klar, warum nicht. Einen Gottesdienst in einer anglikanischen Kirche hatte ich bislang noch nicht erlebt. Dass mir davon so viel so nachhaltig in Erinnerung bleiben würde, hätte ich nicht erwartet.

Sehr persönlich, sehr familiär

Zum Beispiel, dass der Pfarrer jeden Gottesdienstbesucher vor der Kirchentür persönlich begrüßte. Ich sei die Freundin aus Deutschland. Und sei ein paar Tage zu Besuch. Deshalb käme ich heute mit zum Gottesdienst. – Habe ich das schon mal bei uns erlebt, dass der Pfarrer jeden Gottesdienstbesucher mit Handschlag begrüßt? Für jeden ein gutes, persönliches Wort hat? Erinnern kann ich mich daran nicht. Aber gut erinnern kann ich mich daran, dass der Pfarrer in Cambridge während des Gottesdienstes ein paar Besucher persönlich ansprach: Grace sei zum ersten Mal nach der Geburt ihrer Tochter Isla wieder im Gottesdienst. Sie solle doch mal nach vorne kommen und die Kleine der Gemeinde zeigen.

Gastfreundschaft pur

Und da hinten – er wies auf meine Freunde, die jeder kannte – da säße eine Besucherin aus Deutschland. Schön, dass ich den Weg in den Gottesdienst gefunden hätte. Herzlich willkommen.
Haben Sie schon mal erlebt, dass es im Anschluss an den Gottesdienst Kaffee und Kuchen gibt? Und zwar in dem freien Raum zwischen letzter Bank und Ausgangstür der Kirche? Ich nicht. Außer bei diesem Gottesdienst in der anglikanischen Kirche. Dass der Organist mir unbedingt seine Orgel zeigen wollte – ein uraltes Teil, auf das er mächtig stolz war. Ob ich auch ein Instrument spielen könne? Na ja, an der Gitarre bin ich laut und lustig. Aber spielen können? Dann sollte ich mich doch mal an die Orgel setzen und

spielen! Dankend lehnte ich ab. Schon an der Gitarre bin ich, sagen wir mal, allenfalls ambitioniert. Aber an der Orgel könnte ich gerade noch beliebig Tasten drücken und Register ziehen. Und hätte dabei bestenfalls Angst, das gute Stück kaputt zu machen. Sie glauben gar nicht, was ich alles bringe! – Trotzdem: Diese Gastfreundschaft, dieses Bemühen um mich, von der man wusste, dass ich sicherlich niemals ein Gemeindemitglied werden würde, war herzergreifend. Und schien mir sehr ehrlich zu sein.

Gemeinsame Übung: Glocken läuten

Alles sehr herzlich und familiär. So, wie ich es mir manchmal für unsere Gemeinden auch wünschen möchte. Was mich aber am meisten beeindruckte, waren die Glöcknerinnen und Glöckner mit ihrem beeindruckenden Glockengeläut. Junge und alte, Männer und Frauen zogen nach Leibeskräften an den Glockensträngen und erzeugten dabei ein so herrliches Geläut, dass mich eine Gänsehaut überkam. Ein Geläut, das ich so noch nicht gehört hatte. Und vor allem: so noch nicht gesehen hatte.
Gut, in englischen Serien von Miss Marple über Agatha Raisin bis hin zu – wenn ich nicht alles durcheinanderwerfe – Inspector Barnaby hatte ich oft genug gesehen, dass Menschen an Glockenstrang ziehen und auf diese Weise das Geläut in Gang setzen.

Je nach Glocken unterschiedliche Botschaften

Alt und englisch – manchmal ja ein Hendiadyoin, also zwei synonyme Begriffe für ein und dasselbe, so dachte ich. Und ging davon aus, dass in jeder „normalen, modernen“ Kirche ein Glockenautomat das Läuten übernimmt. Von Menschenhand vorprogrammiert setzt ein Automat pünktlich und zuverlässig das Läutwerk in Gang – selbstverständlich auch mit genau den Glocken, die die – ebenfalls vorprogrammierte – Läuteordnung vorschreibt. Okay, ich gebe zu: Dass die verschiedenen Glocken in einem Turm je nach Anlass unterschiedlich kombiniert werden, war mir zwar klar, aber nicht wirklich bewusst.

Nachrichtenübermittlung

Dass man aber am Glockengeläut erkennt, ob es sich um einen Festgottesdienst, um eine Katastrophe, um Freudengeläut wie bei der deutschen Wiedervereinigung oder beispielsweise um den Tod eines Bischofs oder des Papstes handelt, der durch Glocken mitgeteilt wird – das ist mir auch erst seit kurzem wirklich bewusst.
Kein Musikinstrument – ja, das sind sie – ist über eine größere Entfernung zu hören als Glocken. Kilometerweit! Logisch, dass vergangene Generationen die Glocken für die Nachrichtenübermittlung nutzten: Je nach Glockengeläut wussten die Bauern draußen vor den Stadttoren, ob sie schnellstens zum Löschen eines Feuers in die Stadt kommen sollten oder ob sie Mittagspause machen durften oder ganz langsam zum Feierabend übergehen konnten. Was recht sinnvoll war in einer Zeit, in der es weder Armbanduhren noch Handys gab.

Läuten als Kunstform

Unbekannt war mir auch, dass das Läuten per Hand in Großbritannien eine Kunstform ist. Bis ins 17. Jahrhundert geht das mehrstimmige Glockenläuten in Großbritannien zurück. Wenn eine Session so richtig in Gang kommt, kann sie bis zu 5.000 Wechsel beinhalten. Und bis zu drei Stunden dauern. Unglaublich! Vor allem wenn ich daran denke, wie die Glöckner bei meinem Gottesdienstbesuch an den Stricken zogen, eine junge Frau immer wieder vom Boden abhob, um, kaum wieder gelandet, erneut aus Leibeskräften die ihr zugeteilte Glocke in Schwung zu bringen. Auch eine Form von Workout!

Viel Kraft

Erst jetzt wird mir klar, warum sich britische Glöckner schon vor Jahren bemühten, ihre Tätigkeit als Sport anerkennen zu lassen. Von wegen britischer Spleen! Das Glockenläuten erfordert Kraft, Ausdauer und das penible Anwenden einer ausgeklügelten Technik. Ich wäre nach drei oder vier Minuten völlig entkräftet zusammengesackt. Einen exakten Rhythmus hätte ich schon lange vorher nicht mehr halten können. Und ich bin mir sicher: Spätestens hier irrte Winston Churchill! Dicke Zigarren und Whiskey als Begründung für sein hohes Alter waren genauso falsch wie seine Behauptung, dass er wegen eines dritten Umstandes so alt geworden sei: No sports! Nee, mein lieber Herr Churchill, das gemeinsame Glockenläuten ist eine Herausforderung für den Körper und den Geist. Und hält beide fit.

Sportliche, sportlich

Wenn ich es mir so recht überlege: Sport dient per Definition der körperlichen und geistigen Fitness und der Ausbildung von sozialen Beziehungen. Das trifft auf das Glockenläuten sicher alles zu. Für Kirchenglocken allerdings steht an erster Stelle: Sie laden zu Gebet und Gottesdienst ein. Ganz besonders in der bevorstehenden Weihnachtszeit.
Mit einem Augenzwinkern möchte ich sagen: Wenn durchs Glockenläuten die Kirchen voll werden, würde das Läuten seinen Zweck erfüllen. Und das Ergebnis wäre in der Tat… sportlich!

Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.

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