Lebensgefühl der Jugend – Woodstock-Festival 1969 (14. August)
Mit zunehmendem Alter scheint das nicht nur mir so zu gehen: Manchmal führt irgendein Ereignis aus der Vergangenheit dazu, dass ganz plötzlich das „Gefühl von damals“ erwacht. In extremen Situationen spüre, rieche oder schmecke ich sogar die Vergangenheit. So auch in den letzten Tagen. Da erinnerte ich mich nämlich wieder einmal an
das dritte Wochenende im August 1969. Nicht dass ich daran wirklich eine Erinnerung hätte. Damals war ich noch zu klein. Aber die Folgen dieses Wochenendes sind mir sehr bewusst. Und lösen nach wie vor bei mir einen Schwall von Gefühlen aus.
Große Namen
Dankbar dafür bin ich einem älteren Freund, der längst gestorben ist. Er spielte mir ein oder zwei Jahre nach diesem Ereignis die legendären Schallplattenaufnahmen davon vor: Woodstock. Wäre ich ohne diesen Freund so früh und so intensiv für Rockmusik sensibilisiert worden? Sicherlich nicht. In seinem Zimmer saßen wir und hörten die Platten des damals oppulenten Dreieralbums. Ich sage nur Crosby, Stills, Nash & Young, The Who, Santana, Joan Baez, Richie Havens, Canned Heat, Joe Cocker, Jimi Hendrix… bis heute noch Interpreten, die Rang und Namen haben. Wie großartig. Dass auch John Fogerty mit seinen Creedence Clearwater Revival bei Woodstock auftrat, erfuhr ich erst viel später. Der Konzertmitschnitt der Band klang so grauenhaft, dass der CCR-Boss die Genehmigung für die Verwendung im Film und auf der Platte verweigerte. Bis eines Tages die fortgeschrittene Technik die Veröffentlichung der restaurierten Originalbänder dann doch möglich machte. Und Fogerty seinen Widerstand aufgab.
Am „A… der Welt“
Mit 80.000 jungen Menschen hatten die Veranstalter damals gerechnet – 400.000 kamen schließlich. Essen, schlafen, trinken und, auch das gehörte damals dazu, kiffen und lieben unter freiem Himmel. Junge Mütter stillten ihre Kinder. Und dazu Rockmusik ohne Ende. Weitab von der Zivilisation, wie wir vielleicht heute sagen würden. In Bethel, einem kleinen Kaff im US-Bundesstaat New York. Und damit 70 Kilometer südwestlich vom ursprünglich ausgewählten Veranstaltungsort, der dem Festival trotzdem seinen Namen gab: eben „Woodstock“.
Der Farmer Max Yasgur, der sein Land für das damals größte Jugendtreffen der Welt zur Verfügung stellte, erklärte: „Ich bin nur ein Bauer. Aber ihr habt der Welt bewiesen, dass eine halbe Million Menschen zusammenkommen können, Musik hören und drei Tage Spaß haben können.“ Yasgurs Worte – auf Platte und DVD sind seine Worte aufbewahrt für die Ewigkeit.
Vision von einem friedlichen Leben
Woodstock war deshalb so umwerfend, weil es friedlich blieb. 400.000 Hippies, für die es zu wenig Toiletten gab, die im Matsch schliefen, sogar eine Art Schlamm-Weitrutsch-Wettbewerb daraus machten – sie alle hatten eine Vision vom Leben. Und die sah vor allem ganz anders aus als der Alltag, den ihre Eltern gerade lebten: Eingerichtet in einer mittelständischen Gesellschaft, voller gesellschaftlicher Konventionen und Prüderie, satt durch den erarbeiteten Wohlstand. Und alles, was immer noch an Emotionen aufbegehrte, wurde durch Krieg befriedigt. Natürlich weit weg von Amerika, im asiatischen Vietnam. Genau davon wollten die, die in Woodstock zusammengekommen waren, nichts wissen. Geplant worden war Woodstock als Festival of Music & Art Fair. Im kollektiven Gedächtnis fest verankert ist es als „3 Days of Peace & Music“, als Protest gegen das US-amerikanische Establishment jener Zeit. Viel mehr als nur das erste ganz große Musikfestival in der Geschichte der Menschheit.
Zurück zu den Wurzeln des Menschseins
Alvin Lee, damals Mastermind von Ten Years After, fegte mit einer Wahnsinns-Geschwindigkeit über seine Gitarre, stieß immer wieder seine Sehnsucht aus: I‘m Coming Home – ich komme nach Hause. So als wollte er
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Gegen autoritäres Gehabe
Für Joan Baez war dazu der Kampf nötig gegen alle, die den Frieden bedrohten. Baez benannte einen davon namentlich, als sie ein Lied gegen den Ku-Klux-Klan spielte, widmete ihm sogar ihren Protest: dem damaligen “Governor of California, Ronald Reagan“. Dessen Regierungsapparat hatte den Bürgerrechtler David Harris, nebenbei Baez damaliger Ehemann, für drei lange Jahre hinter Gitter bringen lassen. Der Grund: Harris war seinem Einberufungsbescheid nicht gefolgt, hatte zudem eine Organisation gegründet, die Männer ermutigte, sich gegen die Wehrpflicht aufzulehnen. Reagan hingegen wurde später US-Präsident.
Gegen Vietnam
Ein unübersehbar politisches Zeichen war der Auftritt von Country Joe McDonald: Der war immerhin ehemaliger US-Elitesoldat. Beim Woodstock-Festival sang er gegen den Vietnamkrieg und verurteilte den Einsatz des menschenverachtenden Napalms. Dass er seinen „I-Feel-Like-I’m-Fixing-To-Die-Rag“ 2003/2004 als Kampfansage an den Irakkrieg mit aktualisiertem Text ins Internet stellt, macht aus der Rückschau sein Engagement bei Woodstock vielleicht sogar noch deutlicher.
Dort allerdings überstrahlte der Auftritt von Jimi Hendrix alles und jeden. Hendrix intonierte die US-amerikanische Nationalhymne und brachte mit seinem Gitarrenspiel genau das zu Gehör, wovon der Text der meistgesungenen ersten Strophe sogar handelt: von Raketen und zerplatzenden Bomben. Hendrix aber machte statt schaler Worte die Bombenabwürfe und Sturzangriffe der Kampfflugzeuge auf grausame Weise hörbar. Nur von dem Stolz, der in der Hymne mitschwingt, blieb bei Hendrix wenig übrig. Bis heute interpretieren viele Hörer die Hendrix-Version als Protest gegen den Bombenhagel der US-Militärs gegen Vietnam.
Sex and Drugs and Rock and Roll
Keine Frage, Woodstock war auch ein Festival, bei dem Drogen und Alkohol nur so kursierten. Wer sich heute den Film anschaut, der Kamera folgt, die beim Auftritt von Joe Cocker immer wieder die Whiskyflasche am Fuß des Mikrophonständers einfängt, fragt sich schnell, was den offensichtlich volltrunkenen Joe Cocker eigentlich noch auf den Beinen hielt. Nur wenige Chronisten führen die jederzeit etwas ungewöhnlichen Bewegungen Cockers auf die Auswirkungen einer frühen
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Natürlich kann man sich daran stören, dass da ein Haufen Langhaariger faul zusammenkam, um Musik zu hören. Ja, man kann sich darüber mokieren, dass die sexuelle Freizügigkeit ihrem Namen alle Ehre machte. Und natürlich kann man die Nase rümpfen, dass viele der Festivalbesucher Marihuana rauchten. Aber sonst?
Tote
Es wäre unredlich, die Schattenseiten von Woodstock zu verschweigen. Denn es gab drei Tote. Ein Jugendlicher verpasste sich eine Überdosis. Ein junger Mensch verstarb an einem Blinddarmdurchbruch. Und ein dritter wurde am Morgen nach dem Festival bei der ersten Aufräumarbeiten in seinem Schlafsack von einem Traktor überrollt. Schlimme, schreckliche Ereignisse! Allerdings solche, die auch jenseits eines Musikfestivals passieren. Und ganz sicher nicht ihre Ursache in diesem friedlichen Großevent haben.
Dann eben anders!
Letztlich war Woodstock aber viel mehr als nur ein Festival of Music & Art Fair. Angesichts der unerwartet großen Menschenmassen gaben die Veranstalter ihre Vorstellungen von einem geordneten, bezahlten Eintritt und dem entsprechenden Profit auf. Von einem bestimmten Zeitpunkt an erklärten sie das Festival zu einem „free concert“ – Ticketkontrollen bei 400.000 anreisenden Menschen hätten nur ein Chaos ausgelöst.
Weil die Straßen hoffnungslos verstopft waren, mussten die Veranstalter neue Wege finden, um die Musiker auf die Bühne zu bringen. Und sie fanden sie, ließen eben – für damalige Zeiten absolut unkonventionell – den einen oder anderen per Hubschrauber auf das Festivalgelände bringen.
Dass die Hygienemöglichkeiten völlig unzureichend waren, heftiger Regen dem Festival, seinen Besuchern, den Musikern, Technikern und Organisatoren zusetzte und so den gesamten Zeitplan durcheinanderbrachte – ja und? Da hing man eben die Nacht vom Sonntag auf Montag einfach noch dran.
Finanzielles Desaster; No Rain
Dass das Festival in einem finanziellen Desaster endete und erst lange Zeit später, nicht zuletzt durch die Schallplattenveröffentlichungen und durch die filmische Dokumentation sogar Gewinne einbrachte – irgendwie war das nachrangig. Viel wichtiger waren die Menschen, die friedlich zusammenkamen, feierten, sich gegenseitig halfen… und sogar Unmögliches versuchten, als sie gegen den schier unendlichen Regen ihr „No Rain“ skandierten. Sie alle begründeten den Mythos von Woodstock. Love and Peace, Liebe und Frieden. Eine Hoffnung auf eine bessere Welt.
Aus einer kleinen Idee…
Es ist schon erstaunlich, wie die Gedanken manchmal Purzelbaum schlagen: Während ich mir die DVD mit den Aufnahmen von 1969 in den letzten Tagen noch einmal ansah, wurde mir eine andere Dimension des Festivals bewusst: Ursprünglich hatte lediglich eine Handvoll junger Leute eine Idee. Teil der Idee war, sich selbst und die eigene Lebensfreude mit den Mitteln der Zeit zu feiern. Vor allem aber denen, die aus Sicht der Jugend längst starr und festgefahren geworden waren, zu zeigen, dass es anders geht. In ihren kühnsten Träumen kalkulierten die Initiatoren mit ein paar Tausend, vielleicht sogar 80.000 Gleichgesinnten. Doch aus der Idee einiger weniger wurde mehr: 400.000 Menschen sprangen sofort auf den fahrenden Zug, Millionen ließen sich in den Jahren danach begeistern. Alles kam ein bisschen anders, wurde viel, viel größer, besser und nachhaltiger als erwartet. Weil sich die jungen Leute nicht beirren ließen. Weil sie trotz aller Probleme – mangelnde Toiletten, Verpflegung und sogar gegen sie kämpfender Naturgewalten – an ihren Ideen festhielten. Nicht aufhörten von einer Welt zu träumen, die so anders war als die Welt ihrer Eltern. Dass sie dabei neue Wege gehen mussten – man denke an die angesprochenen Hubschraubereinsätze – und eben innovativ Probleme angingen, spricht für die Kraft der Jugend.
Wäre unsere Wirklichkeit ohne Woodstock dieselbe? Oder eine andere? Das weiß ich nicht. Aber ich bin überzeugt davon: Es ist gut, dass die jungen Menschen ihre Chancen ergriffen, an sich glaubten und unbeirrt, friedlich, aber konsequent für eine andere Welt eintraten.
… wird ein Riesending
Was den Purzelbaum anbelangt: Längst stelle ich mir die Frage, ob wir gesettelten Erwachsenen nicht in einer ähnlichen Situation sind wie die, gegen die damals Hunderttausende von Jugendlichen bei Woodstock und überall auf der Welt rebellierten. Hat die Idee einer einzelnen Schülerin, mit einem Pappschild vor dem Schwedischen Reichstag in Stockholm gegen den Klimawandel zu protestieren, nicht ähnliche Strukturen und ähnliches Potenzial? Vor allem: Ist diese Idee, der längst viele folgen und die bis in die „hohe Politik“ Einzug gehalten hat, nicht noch notwendiger als die „Rebellion von damals“? Wird es nicht höchste Zeit, dass wir Menschen unseren Krieg beenden? Ja, natürlich auch all die Kriege in der Welt, aber vor allem meine ich den weltweit stattfindenden Krieg gegen unsere Erde. Den Krieg gegen alles, was auf unserem Planeten lebt. Und damit den Krieg gegen uns selbst?
Heißt das Woodstock der Gegenwart möglicherweise „Fridays For Future“? Und ist Greta Thunbergs „How dare you…“ das aktuelle „Star Spangled Banner“ in der Woodstock-Version von Jimi Hendrix? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. In jedem Fall ist es höchste Zeit, dass sich etwas ändert. Damit wir überhaupt noch in 50 Jahren an das Woodstock von 1969 erinnern können und nicht nur um das nackte Überleben kämpfen.
Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.
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