Ja, ist denn schon Weihnachten? Eine Krippe in der Kirche – JETZT! (26. März)
Ja, ist denn schon Weihnachten? Diese Frage könnte einem unwillkürlich über die Lippen kommen, wenn man in der hessischen Rhön in die St. Bartholomäus-Kirche in Hilders kommt. Denn zwischen Moos und Tannenzweigen kniet eine kleine Holzfigur, die Hände zum Gebet gefaltet. Keine Frage: In der Kirche steht eine Krippe. Deshalb drängt sich dieser legendäre Satz auf, den uns die Werbung vor etlichen Jahren eingetrichtert hat und die zu einem geflügelten Wort geworden ist: Ja ist denn schon Weihnachten? Nein, ist es nicht. Und:
Dies ist eine Krippe, ja. Aber sie ist ganz anders.
Vom Weihnachtsfest her kennt man das so: Ochs, Schafe und Esel, natürlich Maria und Joseph, das liebe Jesuskind in einer Futterkrippe. Dazu Engel, die jauchzen und jubilieren. Und Hirten, die andächtig und demutsvoll dem neugeborenen Gottessohn huldigen. Das alles in und um eine Art Heuschober herum, weil der prima in unsere Vorstellung vom Stall, also der Garage für das liebe Vieh, passt. Dass wir dabei übersehen, dass im alten Israel die Tiere über Nacht in Felsenhöhlen getrieben wurden und dass deshalb auch der Besuch der Geburtsgrotte (sic!) Jesu in Bethlehem bei einer religiös motivierten Israelreise zum Pflichtprogramm gehört, ist nicht weiter tragisch. (Zur traditionellen Weihnachtskrippe gehören noch drei weitere Figuren, die als Könige zu erkennen sind. An Weihnachten spielen die aber noch nicht mit. Da liegen sie noch hinter dem Stall. Ihr großer Auftritt kommt erst ab dem Fest Heilige Drei Könige – knapp zwei Wochen nach Weihnachten.)
Auch wenn man jetzt sagen kann: Heute in neun Monaten ist Weihnachten fast schon wieder vorbei, dann gilt dennoch: Die Weihnachtskrippe ist bei den meisten Menschen da, wo sie zumindest noch die nächsten 8 ½ Monate hingehört: in einem Karton im Keller, auf dem Dachboden oder sonst wo, wo sie gut verpackt ist und keinen Schaden nehmen kann. In der St. Bartholomäus-Kirche in Hilders ist das anders. Und das schon seit vielen Jahren.
Damals brachte ein alter Pfarrer die Idee in den kleinen Ort in der hessischen Rhön, das ganze Jahr über eine Krippe aufzustellen. Zu Weihnachten, klar, mit dem, was nun einmal zu einer Weihnachtskrippe gehört, im Verlauf des Jahres aber mit immer wechselnden Motiven. Orientieren wollte er sich am Kirchenjahr, also an der Abfolge der kirchlichen Feste, wie sie die Kirche im Laufe des Jahres feiert. Bei den Menschen im Ort kam die Idee gut an. Und auch bei den zahlreichen Touristen, die sommers wie winters die Rhön besuchen.
Nach dem Tod des alten Pfarrers übernahmen drei Rentner das seltene Hobby, trafen sich alle zwei Wochen zum Umbau an der Krippe. Dafür hatten sie mittlerweile einen unglaublichen Fundus zur Verfügung: Etliche
Aufbewahrungskisten mit Hunderten von kleinen, geschnitzten Händen, mal betend, mal flehend, mal ausgestreckt; Köpfe, wie es scheint, ohne Ende, eine Kiste mit mindestens 150 Körpern aus Pappmache. Das Schöne: Köpfe und Körper sind fast alle untereinander beliebig kombinierbar, so dass sich ungezählte Variationsmöglichkeiten ergeben. Stichwort ungezählt: Ungezählt sind auch die Dekorations- und Kleinteile, die in weiteren Kisten lagern. Einer der Rentner schneiderte mit Mitte 80 immer noch die Kostüme für die unterschiedlichen Krippenmotive selbst, quasi je nach Bedarf. Sein Vater, von Beruf Schneider, hatte ihm das Nötigste dazu beigebracht.
Mit ein bisschen Phantasie kann man sich das ganz gut vorstellen: eine etwas größere Dorfkirche, die Bänke, der Altarraum – und dann auf einer gar nicht mal so kleinen Fläche die Jahreskrippe. Dazwischen drei betagte Rentner, die wie Perfektionisten fachsimpeln, eine Figur ein bisschen mehr nach links rücken, eine andere weiter nach rechts, immer auf der Suche nach der besten Wirkung.
Motive, die es aufzubauen gilt, gibt es genug. In der Osterwoche bietet sich beinahe täglich ein Wechsel an: Am Palmsonntag der Einzug Jesu in Jerusalem auf einem Esel, dazu jede Menge Figuren, darunter Frauen, die Kleidungsstücke auf dem Weg ausbreiten, und Jünglinge, die Palmwedel schwenken;
am Gründonnerstag das letzte Abendmahl mit Jesus und seinen Jüngern;
am Karfreitag die Kreuzigung;
und am Karsamstag, passend zur Feier der Osternacht, dann die Darstellung der Auferstehung.
Wer meint, jetzt gäbe es eine lange Pause, irrt. Schon am nächsten Sonntag, dem so genannten Weißen Sonntag war viele Jahre in Hilders eine Krippe mit dem Motiv des ungläubigen Thomas zu sehen, der einfach nicht glauben kann, dass der gekreuzigte und gestorbene Jesus vor ihm steht, bis er dessen Wundmale von der Kreuzigung sieht.
Danach gibt es dann tatsächlich erst einmal eine Verschnaufpause für die fleißigen Krippenbauer. Aber nicht lange. Denn manche Motive drängen sich einfach auf. Dazu zählen vor allem die hohen kirchlichen Feiertage: Zu Pfingsten passt es einfach, den Heiligen Geist mit Strahlen und Zungen an der Decke darzustellen, im Raum dann die Apostel, die staunend nach oben gucken und sich fragen, was denn da gerade vorsichgeht.
An Fronleichnam gab es einen geckten Tisch zu sehen, an dem die Apostel, Maria, die Mutter Jesu, und natürlich Christus selbst mit Broten in der Hand dargestellt wurden. Auch Maria Magdalena fand ihren Platz an der Tafel.
Dass bei der Erzählung von der Hochzeit zu Kanaa eine muntere Hochzeitsgesellschaft nachgebildet wurde, mittendrin Mutter Maria, die ihrem Sohn klarmacht, er solle das „Wasser-zu-Wein-Wunder“ vollbringen, versteht sich von selbst.
Weil im nahegelegenen Fulda der heilige Bonifatius, der Apostel der Deutschen, begraben liegt und in der ganzen Region besonders verehrt wird, stellten die Hildenser Krippenenthusiasten rund um den Todestag des Heiligen Anfang Juni auch schon eine Bonifatiuskrippe auf. Mittendrin der großgewachsene Heilige, schon etwas älter, daneben seine beiden deutlich jüngeren Begleiter Sturmius und Lullus… und dann natürlich die Donareiche, Kultort der Verehrung des germanischen Gottes Donar. Bonifatius legte die kurzerhand um und machte damit deutlich: Die heidnischen Götter haben gegen den christlichen Gott keine Chance. Gehen Sie einmal im Fuldaer Land in einen Kindergarten: Da beten Ihnen diese Geschichte bereits die Kleinsten begeistert rauf und runter – klar, dass das Fällen der Donareiche auch ein sehr eindrucksvolles Motiv für die Krippe ist.
Von Hilders in Osthessen nach Bremen in Norddeutschland: Dort kam nämlich der zu Beginn des 9. Jahrhunderts geborene Ansgar von Bremen auf die Idee der so genannten Biblia pauperum, der Armenbibel: Weil die meisten Menschen der damaligen Zeit nicht lesen konnten, die Kirche ihnen aber trotzdem die vielen Erzählungen aus der Bibel näherbringen wollte, entstanden Blätter, auf denen bestimmte Passagen aus der Bibel aufgemalt waren. Pädagogisch besonders durchdacht war dabei die Idee, bestimmte Begebenheiten aus dem Neuen Testament mit passenden Begebenheiten aus dem Alten Testament zu verbinden.
Mit Einsetzen der romanischen Epoche rund 150 Jahre später schaffte es die Idee der Biblia pauperum sogar in die Freskenmalerei an den Wänden einiger romanischer Kirchen.
Noch etliche Menschenleben später, nämlich im Mittelalter, entstehen überdimensionale Fastentücher, die möglicherweise eine Art Fortsetzung der Biblia pauperum darstellen: ein entsprechend gestaltetes Bild enthält einen Kernsatz der christlichen Botschaft, der durch ein zumeist zweizeiliges Bibelzitat knapp zusammengefasst wird.
Und wenn man so will, dann ist auch die Jahreskrippe in Hilders mit ihrer Darstellung von Szenen aus der Bibel eine Art figürliche, plastische Biblia pauperum. Passend für eine Zeit, in der zwar fast jeder lesen kann, aber die wenigsten noch etwas von den Inhalten der christlichen Feste wissen. Mit der Jahreskrippe in Hilders können sie zumindest etwas davon erahnen.
Aber auch in Hilders ist die Zeit in den letzten Jahren nicht stehengeblieben. Auch dort haben sich Dinge verändert, ist manches anders als früher. Die Jahreskrippe gibt es immer noch, wenn sie auch in veränderter Form gestaltet wird. Aber immerhin: Bis Ostern steht sie auch in diesem Jahr. Und lädt gerade in Coronazeiten in die ansonsten zumeist leere Kirche ein, wo man die Darstellung auf sich wirken lassen darf. Wie Sie jetzt wissen: nicht nur an Weihnachten! Auch jetzt.
Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.
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