Herr Turtur: von Scheinriesen und lächerlichen Zwergen (5. April)
Kennen Sie Herrn Turtur? Herr Turtur ist ein Scheinriese. Das bedeutet: Wenn Herr Turtur weit von Ihnen entfernt ist, dann erscheint er riesengroß. Fürchterlich groß! So, dass Sie sich geradezu erschrecken, sich vor ihm fürchten. Und am liebsten weglaufen. Weil das schon viele getan haben, ist Herr Turtur sehr einsam. Je mehr sich aber Herr Turtur Ihnen nähert, desto kleiner wird er. Und wenn er direkt vor Ihnen steht,
hat er nur noch die Größe eines durchschnittlichen Menschen. Erschreckend an ihm ist dann gar nichts mehr. Im Gegenteil. Herr Turtur ist ein äußerst liebenswürdiger Mensch. Wobei „Mensch“ nicht stimmt. Denn Herr Turtur ist eine Marionette der Augsburger Puppenkiste. Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer begegnen ihm bei ihren Abenteuern.
Was Michael Ende vor rund 60 Jahren in seinen herrlichen Büchern über Jim Knopf und Lukas den Lokomotivführer geschrieben hat, ist nicht nur frei erfunden. Zumeist hat er seine Geschichten dem ganz normalen Leben abgeschaut, aber ein wenig verfremdet. So konnte er und kann er immer noch uns allen gewissermaßen einen Spiegel vorhalten. Und, ja, auch im richtigen Leben gibt es Menschen, die eine große Ähnlichkeit mit Herrn Turtur haben. Nur sind die nicht immer so freundlich wie die Marionette in Michael Endes Vorlage.
Scheinriesen im richtigen Leben
Wahrscheinlich kennen Sie solche Menschen auch: Menschen, die mit gewichtigen Worten vermeintliche Tatsachen verkünden, die man ihnen auf den ersten Blick gerne glauben möchte, die sich aber bei näherem Hinschauen in Wohlgefallen auflösen. Je näher man diesen Menschen kommt, je genauer man ihre gewaltigen Reden unter die Lupe nimmt, desto weniger bleibt von ihnen übrig. Von den Reden. Und von den ach-so-großartigen Rednern. Viel heiße Luft, viel Rauch um nichts, wie man so sagt. Der vermeintliche Riese wird als Blender, als Gernegroß entlarvt, erweist sich als aufgeblasen, mit ungeheurem Geltungsdrang, oft genug als Narzisst. Und meistens fehlt ihm die rechte Wahrnehmung für jede Form von Realität, die nicht eine von ihm selbst erschaffene ist. Ein Scheinriese eben. Allerdings nicht so sympathisch wie der echte Herr Turtur aus der Augsburger Puppenkiste.
Solche Menschen können sehr unangenehm sein. Wenn sie Macht bekommen, können sie sogar gefährlich werden. Mit Blick auf Politiker nennen wir solche Menschen heute gern Populisten. Gefährliche Schwätzer, die einzelne Menschen, Volksgruppen, im schlimmsten Fall ein ganzes Volk, vielleicht sogar die ganze Menschheit ins Verderben stürzen können. Demagogen, denen man ihre Behauptungen von der Überlegenheit der eigenen Rasse abnimmt, denen viele die Parolen abnehmen, dass ihr Volk an erster Stelle zu stehen hat.
Aber Scheinriesen finden sich auch im eigenen, näheren Umfeld. Eine Bekannte klagte jahrelang über
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einen Vorgesetzten, der ein echter Scheinriese war. Von Menschen, die ihn nicht im Alltag erlebten, sondern nur auf selbstgewählten Bühnen als anerkannt galt, als geschätzt, sehr eloquent, einer, der auf den ersten Blick einen untadeligen Eindruck machte. Hatte man jedoch näher mit ihm zu tun, zerbröselte dieses Bild schnell. Da erkannte man ihn als jemanden, der seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen Verhaltenskodex auferlegte, an den er sich selbst nicht hielt; ein Mensch, den man aufgrund seiner Sachkenntnisse durchaus schätzte, aber mit dem man nach Feierabend lieber kein Bier trinken wollte; der Kolleginnen und Kollegen so klein wie eben möglich machte, nur um neben – oder besser über – ihnen zu glänzen. Bezeichnend eine Äußerung, über die sich meine Bekannte wahnsinnig geärgert hatte: „Wäre die Sache schief gegangen, hätten wir ja einen Schuldigen gehabt. Nun, wo die Sache gut gelaufen ist, kann ich sagen: Ich bin stolz darauf, dass ich eine so gute Abteilung zusammengestellt habe.“
Beim näheren Hinsehen glänzte dieser Mensch wohl durch mehr Schein als Sein. Ein richtiger Scheinriese eben. Auf den ersten Blick ein Riese, bei genauerem Hinschauen ein lächerlicher Zwerg. Einer, der hinter seiner Fassade bei weitem nicht so freundlich war, wie Herr Turtur.
Liebe oder Hass
Verkehrte Welt? Lernt man jemanden wie Herrn Turtur näher kennen, fühlt man sich wohl, von ihm angezogen, möchte man gern mit diesem freundlichen Wesen zusammen sein. Weil er eben auf sympathische Weise umso mehr schrumpft und jeden Schrecken verliert, je näher man ihm kommt.
Ganz anders die Möchtegern-Riesen: Je näher man ihnen kommt, desto mehr stoßen sie ab; desto mehr entpuppen sie sich als eitler Fatzke, als selbstsüchtig, immer darauf bedacht, sich selbst in den Vordergrund zu stellen, notfalls auch auf Kosten anderer. Diese Art von Scheinriesen mag man gar nicht. Geschrumpft zum lächerlichen Zwerg mag man mit ihnen nichts zu tun haben. Oder bedauert sie sogar. Trotz ihrer gesellschaftlichen Stellung, auf die sie sich so viel einbilden.
Wie sich jemand gibt und wie er wirklich ist – die Differenz zwischen beiden entscheidet oft darüber, ob man einen Menschen als sympathisch empfindet oder nicht. Handelt es sich um einen Scheinriesen, der sich am Ende als lächerlicher Zwerg entpuppt, geht man gerne auf Distanz; ist es ein Scheinriese, der anfangs Respekt, ja vielleicht sogar Furcht einflößt, sich bei genauerem Hinsehen aber als liebenswürdiger, freundlicher Mensch erweist, fühlt man sich schnell angezogen. Herr Turtur lässt grüßen!
Scheinzwerge
Ganz sicher aber gibt es zumindest noch eine weitere Kategorie Mensch: die, die nicht viel Aufhebens um die eigene Person machen; die über so viel Qualitäten verfügen, dass sie es gar nicht nötig haben, ihre eigene Person in den Vordergrund zu stellen. Meist werden diese Menschen übersehen; oft realisiert man nicht, dass sie viel zu sagen hätten, wenn man sie denn fragen würde; dass man eine Menge an Facetten an ihnen entdecken könnte, wenn man denn wollte; Menschen, die immer wieder für Überraschungen gut sind; Menschen, mit denen es nie langweilig wird.
Ich bin fest davon überzeugt: Genau das sind die Menschen, die wir letztlich lieben. Menschen, die sogar das Gegenteil von einem Scheinriesen sind: Scheinzwerge. Die kommen auf den ersten Blick vielleicht ganz unscheinbar daher, zeigen aber, wenn wir genauer hinschauen, auf den zweiten, den dritten Blick tatsächliche Größe.
Michael Ende und seinem Herrn Turtur sei Dank für diese Erkenntnis.
Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.
Kommentare
2 Kommentare
Liebe Frau Behlberg,
liebe Leser(innen),
bei mir kommt die Frage auf, was denn nun ein Scheinriese ist, ist er ein aufgeblasener Zwerg oder ist er ein leider nicht leicht zugänglicher (ebenbürtiger) Zeitgenosse?
Das Fatale an der Bezeichnung Scheinriese ist, dass man beides daraus verstehen kann. Aber Michael Ende hat mit TurTur nur eines von beiden gemeint.
Ein anderer Gedanke: Ich habe in meinem Studium bei der Frage, was denn nun eine GmbH &Co KG sei, gelernt, dass eine Ofentür nun mal eine Tür sei und kein Ofen. Dem deutschen Sprachgebrauch ist also eine GmbH & Co KG eine KG und keine GmbH (was juristisch zutreffend ist). Dasselbe gilt für einen Küchentisch und eine Fensterscheibe und auch für nicht gegenständliche Begriffe wie Gedankenspiel und Mutterliebe. Und was bedeutet das für unseren Scheinriesen?
Ja, auch der Scheinriese ist ein Riese, wenn er weit weg ist, aber er verliert seine erschreckende Größe, wenn man ihm näher kommt. Dann wird er geradezu menschlich nahe. Das ist das Bild, das Michael Ende mit TurTur beschreibt.
Den aufgeblasenen Vorgesetzten als Scheinriesen zu bezeichnen, folgt einem anderen Verständnis als das von Michael Ende. Es übersetzt den Scheinriesen in einen scheinbaren Riesen und attestiert dem Riesen durch das Attribut „scheinbar“ einen negativen Touch. Grammatikalisch ist das zulässig und von der Bedeutung her durchaus verständlich und auch in anderen Begriffen wiederzufinden: Scheinehe, Scheinlösung, Papiertiger, Teufelszeug, Fake News (obwohl nicht deutsch).
Nur gerade Michael Endes Verständnis ist das nicht.
Mit gutem Gruß Jürgen Meyer
Hallo, Jürgen Meyer, vielen Dank für Ihren ausführlichen Kommentar. Das Beste daran: Schon in Ihrem ersten Satz („kommt bei mir die Frage auf…“) konnten wir unserer Kollegin gratulieren: alles richtig gemacht! Dieser Leser fühlt sich angeregt nachzudenken! Mehr kann man mit einem Text nicht erreichen. Wodurch Michael Ende in der Realität zu seinem Bild vom Scheinriesen beeinflusst wurde (vielleicht ja von aufgeblasenen Vorgesetzten, wer weiß), kann man ihn ja leider nicht mehr fragen. Ob er hier – in schriftstellerischer Freiheit – mglw. gegen die Grammatik verstoßen hat, auch nicht. Und falls ja, auch nicht, in welcher Absicht. Klar ist aber: Scheinriesen wie Herr TurTur sind uns in der Redaktion allemal lieber als Menschen, die sich aufblasen, deren Fähigkeiten aber bei einer näheren Überprüfung auf Erbsengröße zusammenschrumpfen. Leider gibt es von denen viel zu viele. Von solchen Figuren wie Herrn Turtur gibt es leider wohl nur ganz wenig. Bei Michael Ende genau eine. Und „im richtigen Leben“ sind sie auch sehr, sehr selten.
Noch einmal herzlichen Dank für Ihren Kommentar.
Klaus D, CvD HeavenOnAir
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