Frühlingsbräuche rund um den Frühlingsbeginn (20. März)
„Jetzt fängt das schöne Frühjahr an, // und alles fängt zu blühen an // auf grüner Heid und überall.“
Wenn Sie diesen Text jetzt erst lesen, haben Sie es schon verpasst: Seit heute Morgen, Punkt 10.36 Uhr haben wir offiziell Frühlingsanfang. Was in vergangenen Jahrhunderten in alten Volksliedern wie diesem hier festgehalten wurde und für die Menschen vergangener Zeiten eine große Bedeutung hatte, zieht heute kaum jemand hinter dem Ofen hervor. Denn auf den ersten Blick
ist es tatsächlich völlig egal, welches Datum der Kalender für den heutigen Tag anzeigt. „Samstag“ oder „Sonnabend“ – das ist vielen wichtiger.
Die Wichtigkeit eines Datums hängt also davon ab, was man persönlich damit verbindet. Alle, die heute ihren Geburtstag feiern wollen, verbinden eine Menge mit diesem Tag. Aber ansonsten? Nett zu wissen, dass heute der Tag und die Nacht gleichlang sind. „Tag- und Nachtgleiche“, wie die Fachleute das nennen. Oder noch gelehrter: das Äquinoktium. Bei der Tag- und Nachtgleiche wechselt die Sonne auf die jeweils andere Seite der Halbkugel, da ihr Zenit die Linie des Äquators überquert. Das gibt es gleich zweimal im Jahr, nämlich am 20. März und, auf dem Weg wieder zurück, am 20. September. Mit dem Frühlingsanfang beginnt nicht nur eine neue Jahreszeit. Zumindest Astrologen halten es für wichtig, dass die Sonne seit heute, Punkt 10.36 Uhr vom Sternzeichen Fische zum Sternzeichen Widder wechselt. Warten wir einmal ab, was das nach sich zieht
Für Menschen bäuerlicher Kulturen wurde die Tag- und Nachtgleiche im Sinne eines astronomischen Ereignisses zu einem Fixpunkt. Von hier aus konnten sie Termine für die Ausbringung des Saatgutes festlegen, sich aber auch orientieren, wann voraussichtlich Flüsse über die Ufer treten würden und wann Zugvögel und Fischschwärme zurückkehrten. Tiere interessieren sich zwar nicht die Spur für unseren Kalender, doch manche von ihnen kommen trotzdem mehr oder weniger zum gleichen Zeitpunkt an bestimmte Plätze zurück. Und landen deshalb seit Generation prima auf dem regionalen Speisezettel.
Die Observation von Himmelskörpern, die die alten Ägypter, Inkas und Azteken wohl von ihren Pyramiden, die alten Kelten von Bauten wie Stonehenge vornahmen, steht mit der Verehrung von Göttern in einem engen Zusammenhang. Auch im Judentum und Christentum ist die Tag- und Nachtgleiche wichtig, um im Zusammenhang mit dem ersten Vollmond im Frühjahr die Daten für das Passahfest und das Osterfest zu berechnen. Dass mit Beginn des 19. Jahrhunderts der Mathematiker Carl Friedrich Gauß sich einmal mit großem Ehrgeiz daransetzen würde, Formeln zu entwickeln, mit denen man Jahre im Voraus die Daten für diese beiden Feste errechnen kann und die unter dem Namen Gaußsche Pessach-Formel bzw. Gaußsche Oster-Formel einmal bekannt würden, konnte vor ein paar Tausend Jahren noch niemand wissen…
Weltweit feiern Menschen den Frühlingsanfang, allerdings sehr unterschiedlich. So stehen in Japan die Kirschbäume rund um den Frühlingsbeginn in voller Blüte, was die Japaner seit über tausend Jahren dazu veranlasst, unter den Bäumen zu picknicken. Dass japanische Kirschen keine essbaren Früchte tragen, stört die Japaner nicht. Schließlich bestechen die Bäume durch eine unglaubliche Blütenpracht. Das reicht ihnen als Grund des Hanami, des Kirschblütenfestes, völlig aus.
Die Tag- und Nachgleiche leitet auch in Indien die heiße Phase des Wartens auf den nächsten Vollmond, den „Phalgan“, ein. An „Phalgan“ beginnt nämlich das Holi-Fest, das in den letzten Jahren auch verstärkt zu uns herüberschwappt: Ursprünglich auf hinduistischen Wurzeln basierend hat sich ein Brauch entwickelt, bei dem sich die Menschen mit Farbpulver bewerfen. Damit das besser hält, ist das zusätzliche Besprühen mit Wasser vorgesehen, was für viele auch eine Art Segnung ist. Einen gewissen Segen bringt dieses Fest ganz sicher: Mit ihm verbunden ist nämlich das Gebot, bereits vor dem Fest alle Streitigkeiten untereinander beizulegen. Erst dann darf man eine ganze Woche lang „andere Menschen nass machen“ und mit Farbpulver bewerfen.
Noch ausgelassener, wenn nicht wilder, geht es in Kirgistan zu. Und das aus gutem Grund. Denn schließlich feiert man dort nach altiranischer Tradition mit der Tag- und Nachtgleiche auch den Beginn des neuen Jahres. Was bei uns der gepflegte Polo-Sport ist, wird in Kirgistan zum Kok Boru, vereinfacht gesagt: Polo mit Ziege. Ziel ist es, vom Pferd aus den Rumpf einer Ziege aufzunehmen und ins gegnerische Tor zu tragen. Immerhin ist die Ziege vorher schon tot.
Das totale Gegenstück dazu findet man auf Bali: Dort stehen zum Frühlingsanfang strenges Fasten und Meditation auf dem Plan. Der Wechsel der Jahreszeiten führt zu dem, was manch einer bei uns vor dem großen Feuerwerk zum Wechsel des Jahres macht: in sich gehen, reflektieren, Dinge abschließen und anschließend mit neuem Elan durchstarten. Religiöse Tradition auf Bali ist es, an diesem Tag nicht aus dem Haus zu gehen, elektronische Geräte wie Radio und Fernsehen ausgeschaltet zu lassen und kein Feuer zu machen. Selbst das elektrische Licht bleibt aus. Und weil man das Haus eh nicht verlassen soll, ist für fromme Hindus auf Bali die Benutzung von Verkehrsmitteln strikt verboten.
Möglicherweise geht dieses „in Stille verharren“ auf die Absicht zurück, böse Geister, die so genannten Equinox, zu täuschen: Sehen und hören die nichts, glauben sie,
Auch bei uns hängen manche Frühlingsbräuche mit einem alten Glauben zusammen, den wir vielfach als Aberglauben abtun: Meistens geht es darum, die Wintergeister zu vertreiben. Fastnachtsumzüge, von denen die meisten bereits lange vor dem Frühlingsanfang durchgeführt werden, haben zum Teil ihren Ursprung darin, die Wintergeister vertreiben oder generell böse Geister verschrecken zu wollen. Das gilt auch für ein besonderes Frühlingsfest in der Schweiz, das so genannte „Sechseläuten“: Bereits 1525 beschloss der Rat der Stadt Zürich, dass die zweitgrößte Glocke des Großmünsters das Ende des Arbeitstages im Sommerhalbjahr, also – Sie ahnen es schon – ab der Tag- und Nachtgleiche verkünden sollte, und zwar abends um Punkt 18.00 Uhr. Im Winterhalbjahr läutete die Glocke übrigens eine ganze Stunde früher. Seit – wie passend zum 18.00 Uhr-Läuten – ausgerechnet 1818 ist in Zürich ein nächtlicher Fackelumzug belegt, der immer größere Dimensionen annahm. Der Höhepunkt ist seit 1862 klar: Seitdem geht es nämlich vor allem darum, den „Böögg“ zu verbrennen. Dabei handelt es sich um eine mit Stroh gefüllte, etwa 80 Kilogramm schwere und drei Meter große Puppe in Gestalt eines Schneemanns. Klar, dass dieser den Winter symbolisiert. Und gleichzeitig eine Anspielung auf die dicke Glocke im Großmünster ist.
Bekanntlich sind die Schweizer besonders clever, was sich auch bei der Verbrennung des „Böögg“ wieder einmal zeigt: Je schneller der Kopf des Schneemanns explodiert, desto länger und heißer wird angeblich der Sommer. Folglich helfen die Schweizer ein bisschen nach und füllen den Kopf des „Böögg“ mit Feuerwerkskörpern. Und weil ein Volksfest bei besserem Wetter viel mehr Spaß macht, haben die Schweizer ihr Sechseläuten schon lange in den April verschoben. Der Beginn des Festes aber liegt weiterhin bei 18.00 Uhr – immerhin!
Eine ähnliche Aktion gibt es in Scuol im schweizerischen Engadin: Dort bauen Schülerinnen und Schüler am ersten Samstag im Februar den „L‘ Hom Strom“, ebenfalls eine übergroße Strohpuppe, die unter viel Getöse am Abend abgebrannt wird. Das Verbrennen des Hom Strom soll auf die Opfergabe eines Bergbauern zurückgehen, der auf diese Weise vom Sonnengott eine gute Ernte erbitten wollte.
Bei vielen Frühlingsbräuchen fallen Heidnisches und Christliches zusammen. Die Kirche bezeichnet seit dem Mittelalter den vierten Sonntag der Fastenzeit als „Laetare“, als Sonntag der Freude. Auch wenn sich der Name auf das himmlische Jerusalem bezieht, sollen sich alle Menschen auf den bevorstehenden Frühling freuen. Die Rheinhessen und Pfälzer tun dies ganz gehorsam, indem sie so genannte „Sommertagsumzüge“ durchführen, während im thüringischen Eisenach seit über 100 Jahren mit dem „Sommergewinn“ das Ende des Winters gefeiert wird. Die Thüringer veranstalten nicht nur einen Umzug durch die Altstadt, sondern auch ein Streitgespräch zwischen der Sonnengöttin, Frau Sunna, und dem Eiskönig, Herr Winter. Sie können sich bestimmt vorstellen, wer dieses Streitgespräch verliert und anschließend in einer Form als Strohpuppe verbrannt wird. Da „Laetare“ sein Datum im Zusammenhang mit dem Osterfest Jahr für Jahr ändert, ist es nachvollziehbar, dass sich Rheinhessen, Pfälzer und Thüringer mit ihren „Sommertagsumzügen“ und dem „Sommergewinn“ nicht immer genau an diesem Sonntag freuen, sondern auch schon mal früher und mal später.
Immer wieder steht bei Frühlingsfesten also das Feuer im Mittelpunkt: Auch beim Scheibenschlagen rollen glühende Holzscheiben, bisweilen auch brennende Räder aus geflochtenem Stroh als Symbol der Sonne von einem Hügel ins Tal. Allerdings handelt es sich hierbei um ein Brauchtum, das wohl nur noch in Südwestdeutschland, vor allem im Schwarzwald zu finden ist.
In manchen Gegenden unseres Landes, in Finnland, Schweden, der Schweiz und dem französischen Baskenland werden ganze Hänge oder Hügel in Brand gesetzt, um so weithin sichtbar auf das Ende des Winters aufmerksam zu machen. Auch hier kommen heidnische Bräuche zum Tragen, bei denen sich aber eine Datumsverschiebung einstellt: Meistens nämlich findet diese Art von Frühlings- und Fruchtbarkeitsfeuern erst in der Nacht zum 1. Mai statt, nach altem irischen Kalender bereits der Sommeranfang, in jedem Fall aber der Tag, an dem die keltische Fruchtbarkeitsgöttin Beltane verehrt wird.
Reste der Beltane-Nacht finden sich auch in der Walpurgisnacht. Danach sollen Hexen in der Nacht zum 1. Mai auf dem Brocken im Harz ein großes Fest gefeiert haben, dem die Bevölkerung aufgrund verschiedenster sexueller Ausschweifungen bereits in der gesamten Woche zuvor mit dem Walpern, dem Läuten der Glocken, als eine Art Abwehrzauber begegnete. Der Legende nach gehörte zu diesem Hexensabbat auch die „reinigende Wirkung des Feuers“. Allerdings ist die Deutung als Hexennacht relativ jung: Sie geht zurück auf literarische Beschreibungen aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Einen größeren Bekanntheitsgrad erreichte die Walpurgisnacht erst, als Johann Wolfgang von Goethe vorhandene literarische Hinweise in seinem „Faust“ (Teil 1) verarbeitete.
Walpurgisnacht und Walpern – der Name für diesen heidnischen Festakt leitet sich von der nun allerdings ziemlich frommen heiligen Walburga ab, der man ursprünglich am 1. Mai, dem Tag ihrer Heiligsprechung, gedachte. Nach jüdischer Vorstellung, an die sich die frühe christliche Kirche anlehnt, beginnt der neue Tag bereits am 18.00 Uhr des Vorabends – insofern fällt die Hexennacht also genau auf den Namenstag der englischen Äbtissin. (Mittlerweile wird der Namenstag der heiligen Walburga, wie bei Heiligen üblich, an ihrem Todestag gefeiert, im Falle von Walburga der 25. Februar.) Walburga gilt als Patronin der Kranken, aber auch als Schutzpatronin gegen Hungersnot und Missernten. Dass ausgerechnet eine fromme Frau, zudem Patronin gegen Tollwut, am Hexensabbat gefeiert wird, entbehrt vermutlich nicht zufällig einer gewissen Ironie.
Am Fall von Hexensabbat und der heiligen Walburga wird deutlich, wie die Kirche Inkulturation betreibt, indem sie heidnische Bräuche durch eigene Feste überlagert. Auch wenn vom Frühlingsanfang bis Ostern noch ein wenig Zeit ins Land geht, sei jetzt schon darauf hingewiesen: Auch das Osterfeuer geht auf heidnische Bräuche zurück, wenn es am Karsamstag oder Ostersonntag angesteckt wird. An ihm wird vielerorts eine Kerze entzündet, die in die verdunkelte Kirche getragen wird. Die durch die Weitergabe des Feuers sich schrittweise erhellende Kirche korrespondiert gut mit dem Ruf der katholischen Liturgie „Christus, das Licht“ in der Osternacht.
Zurück zur Tag- und Nachtgleiche selbst: Bereits die alten Germanen feierten am 21. März ihr Sonnenfest. Vielfach wird vermutet, dass sie an diesem Fest eine germanische Göttin der Morgenröte und des Frühlings verehrt haben. Keinen Beleg gibt es für die weitverbreitete Annahme, dass deren Name Ostara gelautet habe, selbst wenn die Nähe zu den Begriffen Ostern, Ostereier und Osterhase damit erklärt wäre. Plausibler ist die sprachwissenschaftliche Erklärung der Nähe des mittelhochdeutschen Wortes „ostarum“ für das Osterfest, das in seiner ursprünglichen Bedeutung den „Osten“ und damit tatsächlich den Ort der Morgenröte meint. Wie auch immer: Unumstritten stand bei unseren Vorfahren der Hase als Symbol der Fruchtbarkeit hoch im Kurs. Und wer Hühner besitzt, wird schnell bestätigen, dass Hennen nach einem langen Winter im sehr zeitigen Frühling wieder besser legen, folglich an der Anzahl der Eier im Gelege der beginnende Frühling abzulesen ist. Hinzu kommt, dass unter der harten Schale des Eis neues Leben schlummert, so dass das Ei zu einem optimalen Symbol für die Auferstehung Christi werden kann.
Also: Fackeln Sie möglichst nicht Ihre Bude ab – aber freuen Sie sich auf den Frühling. Oder wie wir seit heute, 10.36 Uhr sagen können: ÜBER den Frühling. Denn der ist mittlerweile da. Jetzt muss nur noch das Wetter frühlingshaft werden. Aber keine Sorge: Das kriegen wir auch noch.
Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.
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