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Drahtseilakt – über Vertrauen, Netz und doppelten Boden (30. Juni)

Gestern klingelt jemand an der Tür. Er käme vom Zirkus und bitte um eine Spende. Wegen Corona könne man ja nicht spielen. Keine Einnahmen, kein Geld, weder für die Menschen, noch für die Tiere. Jeder Euro würde weiterhelfen.

Künstler und Corona

„Stimmt, auch die sind von Corona betroffen“, denke ich. Eine Branche, von der man immer wieder hört, dass es ihr eh schlecht gehe. Das Fernsehen liefert seit vielen Jahren bestechend scharfe Bilder. Die Kamera „geht ganz nah drauf“, zeigt mir Details, die ich im Zirkuszelt bei weitem nicht so genau verfolgen kann. Warum also soll ich eine Zirkusvorstellung besuchen? Zumal die kleinen Unternehmen, die durch die Lande tingeln, gar nicht mithalten können mit den großen, die ich im Fernsehen erleben kann. Und trotzdem ist es etwas ganz Besonderes, eine Zirkusvorstellung zu erleben.

Zirkusluft

Erinnerungen werden in mir wach. Erinnerungen an… tja, tatsächlich Bilder, die ich im Fernsehen gesehen habe. Aufnahmen, wie früher ein Zirkus in eine Stadt eingezogen ist: Vorneweg die Akrobateninnen und Akrobaten in ihren glitzernden Kostümen, dann die Wagen mit den Tigern und Löwen, dazwischen Clowns, ein paar bunt geschmückte Kamele und, fast zum Schluss, die Elefanten. Und abends, da weht Nostalgie vom Festplatz herüber. Die ganz typische Zirkusmusik, der aufbrandende Beifall, der tosende Applaus. Und urplötzlich bin ich mittendrin, erlebe mich selbst, wie ich als Kind eine Zirkusvorstellung besucht habe. Ich rieche den Geruch von gebrannten Mandeln und Popcorn, spüre die klebrige Zuckerwatte, die damals einfach sein musste. Und ich merke, wie mich die Tiere und Menschen in der Arena auch viele Jahre später immer noch gefangennehmen. Meine Mutter sagte später, wir Kinder hätten feuerrote Köpfe gehabt vor Begeisterung, hätten wie verrückt geklatscht. Und noch am selben Abend stand fest: Wir würden allesamt Zirkusartisten werden. Und sogar Kevin würde mitmachen – wenn auch nur als dummer August. Na ja, Kinderwort eben. (Bevor Sie auf falsche Gedanken kommen: Kevin ist heute als Chefarzt an einem großen Klinikum in Süddeutschland tätig. Nicht immer entwickelt sich alles so, wie es manchmal scheint.)

Der Tanz auf dem Seil

Mit den Bildern vom Zirkus, die vor meinem geistigen Auge wach werden und mich mitreißen in eine bunte, lebensfrohe Welt, kommt mir auch eine besondere Situation wieder in den Sinn: Trommelwirbel, einsetzende Stille, gespannte Erwartung. Einer der Höhepunkte der Vorstellung: der Tanz auf dem Seil in schwindelerregender Höhe. Balanceakte, Akrobatik, leichtfüßige Männer und Frauen, die hoch oben unter dem Zirkuszelt Kunststücke vollführen. Meisterwerke der Körperbeherrschung, die mit aufbrausendem Applaus belohnt werden. Dann ein erneuter Trommelwirbel: ein einzelner Seiltänzer schiebt eine Schubkarre über das schwankende Seil. Wir Kinder

– feuerrote Köpfe. Die Erwachsenen – glänzende Augen. Ein kurzes Zögern des Artisten, dann geht er los, hält zwischendurch inne, korrigiert die Schubkarre, geht weiter und erreicht das andere Ende des Seils. Applaus, Applaus, es hat geklappt.

Steigen Sie ein!

Jetzt wendet sich der Artist an sein Publikum: „Trauen Sie mir zu, dass ich die Karre auch wieder zurückschiebe“, ruft der Akrobat in die Menge. Wieder brandet Beifall auf, dieses Mal als Zustimmung. „Trauen Sie mir das wirklich zu?“ Der Applaus wird stärker. Doch der Akrobat scheint noch nicht zufrieden. „Und Sie“ – er deutet auf einen jungen Mann irgendwo unten im Publikum – „trauen Sie mir auch zu, dass ich die Karre wieder zurückschiebe?“ „Aber sicher“, ruft der junge Mann zurück und klatscht begeistert. „Dann kommen Sie doch rauf und setzen sich in die Karre – ich schiebe Sie hinüber!“

Vertrauen

Sie merken längst: Diese Geschichte ist nicht wirklich passiert. Irgendwo habe ich sie einmal aufgeschnappt. Und jetzt, wo der Mann vom Zirkus an meiner Haustür steht, wird sie schlagartig wieder lebendig. Wahrscheinlich, weil sie einen wahren Kern im menschlichen Leben berührt: das Vertrauen. Das ist kein Problem. Vor allem dann, wenn es mich persönlich gar nicht betrifft. Wenn andere Kopf und Kragen riskieren, dann ist es leicht, sie zum Mutigsein aufzufordern. Ja, es ist einfach, einem anderen zuzurufen: „Sei nicht feige! Geh voran! Vertrau auf deine Fähigkeiten!“ Denn wenn jemand anderes vorangeht, macht er ja für mich einen Platz hinter dem sicheren Baum frei. Andere aufzufordern, auf ihre Fähigkeiten zu vertrauen, ist einfach. Aber was ist, wenn es mich selbst angeht, wenn es mich selbst betrifft? Wie weit reicht mein Vertrauen dann?

Netz und doppelter Boden

An die Stelle von Vertrauen haben wir in unserer Gesellschaft ein ausgeprägtes Sicherheitsdenken gesetzt. Versicherungen gegen Krankheit, Unfall, Invalidität, gegen Wohnungsbrand, Einbruch, Wasserschaden und vieles mehr – wer es sich leisten kann, will auf der sicheren Seite sein. Sogar gegen das Altwerden in Einsamkeit soll es Versicherungen geben. Dahinter steckt die Erfahrung: Die eigenen Kräfte und Fähigkeiten sind begrenzt. Und im Leben kommt es manchmal unverhofft ganz anders, als man sich das gedacht hat. Oder um das Bild des Zirkusartisten aufzugreifen: Wenn der trotz seiner Begabungen tatsächlich einmal vom Seil kippt, sollte er wenigstens an einer Sicherheitsleine hängen. Oder in ein gut gespanntes Netz fallen.

Das persönliche Rettungsnetz

Natürlich will ich in meinem Leben – im übertragenen Sinne – am liebsten gar nicht auf’s Seil. Aber wenn ich muss? Am Ende bleibt die Frage: Auf wen oder auf was vertraue ich eigentlich? Was gibt mir eine tiefe, innere Sicherheit, trotz aller unangenehmen Ereignisse in dieser Welt geborgen zu sein? Nur wer hier eine Antwort findet, kann den Drahtseilakt seines Lebens wagen und erfolgreich bestehen.

Die Bitte des Zirkusmanns um eine Spende habe ich übrigens gern erfüllt. Wenn auch andere Menschen mithelfen, werden wir gemeinsam zum Netz, zum doppelten Boden, das den Zirkus, seine Menschen und Tiere, etwas weicher fallen lässt. Und ich nehme mir fest vor: Sobald Corona es zulässt, werde ich wieder einmal eine Zirkusvorstellung besuchen. Dass mich ein Artist auffordert, mich in schwindelerregender Höhe über ein Drahtseil schieben zu dürfen, halte ich für ziemlich ausgeschlossen. Wobei man ja nie wirklich weiß, was einem blüht.

Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.

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