Der Prophet im eigenen Land – Henri Dunant und das Rote Kreuz (26. Oktober)
Die örtliche Verwaltung arbeitet zu langsam, ein von Ihnen geplantes Projekt kommt nicht voran und Sie haben die Faxen so richtig dicke. Was tun Sie? Warum mit Hänschen reden, wenn ich auch mit Hans reden kann? Unter diesem Motto liegt die Lösung schnell auf der Hand: Sie laden sich bei Angela Merkel, sagen wir: zum Fünf-Uhr-Tee ein. Oder bei Olaf Scholz. Und vielleicht besser noch bei Joe Biden. Unglaublich? Aber möglich.
Direkt zu Kaiser Napoléon III.
Zumindest vor langer Zeit, zumindest beim Joe Biden des 19. Jahrhunderts. Und zumindest im Kopf des Schweizer Geschäftsmannes Henri Dunant. 1859 hat der in Algerien eine Art Start Up in der Pipeline: Weizen will er dort anbauen, in eigenen Mühlen verarbeiten und dann möglichst gewinnbringend verkaufen. Was ihm fehlt, ist die Konzession für das ohnehin knappe Wasser. Aber die Behörden vor Ort arbeiten gründlich. Aus Sicht Dunants vor allem: langsam. Zu langsam! Tesla und Grünheide lassen grüßen. Weil Algerien seinerzeit eine französische Kolonie ist, Dunant vor Ort nicht weiterkommt, kommt er auf die rettende Idee: Er wird bei Kaiser Napoléon III. persönlich vorsprechen. Vielleicht nicht der mächtigste, aber zumindest einer der mächtigsten Männer der Welt. Womit auch klar ist, warum in der obigen Liste Joe Biden enthalten ist.
Krieg, was sonst?
Napoléon allerdings hat, wer kann es ihm verdenken, gerade andere Sorgen. Er steht mit einem Heer in Norditalien, hat sich an die Seite des Königs von Sardinien gestellt und kämpft gegen die Österreicher. Klar also, dass Napoléon III. andere Dinge im Kopf hat. Welche das sind, sieht auch Henri Dunant, als er sich am 24. Juni 1859 südlich des Gardasees in der Nähe des Örtchens Solferino einquartiert.
40.000 Tote an einem Tag
Nicht weit von Solferino entfernt stehen sich nämlich an einer 16. Kilometer langen Frontlinie 300.000 Soldaten gegenüber. Wer sich daran erinnert, dass zu dieser Zeit Schlachten letztlich Mann gegen Mann ausgetragen werden, ahnt, wozu es kommen muss: 40.000 tote Soldaten an einem einzigen Tag – das sind nicht nur 40.000 Tote zu viel. Auch aus heutiger Sicht sind 40.000 Gefallene an einem einzigen Kriegstag eine unglaubliche Menge.
Wie merkwürdig doch unsere Geschichtsschreibung ist: Dort verkommen 40.000 zerstörte Menschenleben zu einer Randnotiz. Dass die Franzosen unter Napoléon III. gewannen, ist für die Geschichtsschreibung wichtiger.
Größtes Gemetzel der Weltgeschichte
Wer die Auswirkungen der Schlacht von Solferino erlebt hat, wer diese Schlacht überlebt hat, muss einfach schockiert sein. Nicht nur wegen der vielen Toten. Sondern vielleicht mehr noch schockiert vom Elend der Schwerstverwundeten, vom Leid der Sterbenden, die dicht an dicht auf öffentlichen Plätzen und in öffentlichen Gebäuden wie Kirchen und Hallen nebeneinander liegen und schließlich, hatten sie endlich das Leid dieser Welt hinter sich, weggeschafft werden. Sanitätskräfte sind damals Mangelware. Ihre Kenntnisse und ihre Ausrüstung sind im Vergleich zum bislang größten Gemetzel der Weltgeschichte noch nicht einmal der berühmt-berüchtigte Tropfen auf dem heißen Stein.
Ärzte in Gefangenschaft
Dunant vergisst all seine Geschäfte und stellt sich, wie der größte Teil der Zivilbevölkerung, für den Sanitätsdienst zur Verfügung. Wunden auswaschen, möglichst Infektionen verhindern, Verbände wechseln, so lange irgendetwas zum Verbinden aufgetrieben werden kann – auf welcher Seite die Verwundeten gekämpft haben, ist den Helferinnen und Helfern egal. „Sono tutti fratelli“, Wir sind alle Brüder“ so die einhellige Überzeugung.
Als Dunant mitbekommt, dass die Franzosen österreichische Ärzte gefangengenommen hatten, soll er Napoléon III. gebeten haben, diese zum Einsatz an den Verwundeten und Sterbenden freizugeben. Was der Kaiser dann wohl auch tat.
Idee: Hilfsorganisation gründen
Wer so viel Grauen erlebt hat, der wird das nicht wieder vergessen. Auch Dunant kann nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Also veröffentlicht er ein Buch über seine Erlebnisse, lässt dieses auf eigene Kosten in einer Auflage von 1.600 Exemplaren drucken und an wichtige Persönlichkeiten verteilen. Innerhalb kürzester Zeit ist eine zweite Auflage notwendig. Seine
Intention: Es müsse doch möglich sein, in Friedenszeiten eine Einrichtung zu gründen, die die Versorgung von Verwundeten und Verletzten in einer Kriegssituation übernimmt, völlig ungeachtet, welche Nationalität die Hilfsbedürftigen haben.CVjM und Ständiges Komitee
Dunant war in einer strenggläubigen Familie aufgewachsen, gründete in der Schweiz den Christlichen Verein junger Männer, den CVjM. Nun schwebt ihm die Gründung einer weiteren Organisation vor. In Genf darf er vor der so „Gemeinnützigen Gesellschaft Genfs“, einem Zusammenschluss wohlhabender Bürger, seine Ideen vortragen. Die Gesellschaft beauftragt fünf Personen mit der Umsetzung von Dunants Idee, darunter ein Militär, Ärzte und Dunant, der der Sekretär des „Ständigen Internationalen Komitees“ sein soll.
Als Sekretär der neuen Organisation reist Dunant, der irgendwann von Henri auf Henry umsattelt, durch ganz Europa, trifft mächtige und wichtige Menschen und begeistert sie für seine Idee. Eine erste Konferenz mit Delegierten aus 16 europäischen Ländern kann sich auf eine Reihe von Beschlüssen einigen. So wird am 26. Oktober 1863 aus dem „Ständigen Internationalen Komitee“ das „Internationale Komitee vom Roten Kreuz“ (IKRK).
Erster Einsatz des Roten Kreuzes
Als 1864 der Deutsch-Dänische-Krieg tobt, findet die Armbinde mit dem charakteristischen roten Kreuz zum ersten Mal Anwendung. Für den frommen Calvinisten Dunant ist es eine Frage der Logik, die neue Hilfsorganisation „im Zeichen des Kreuzes“ agieren zu lassen. Denn schließlich ist das Kreuz das Symbol des Christentums für Nächstenliebe und Selbstaufgabe. Dass in islamischen Ländern der rote Halbmond an die Stelle des roten Kreuzes tritt, wird Dunant nicht gestört haben. Hauptsache, Menschen in Not bekommen Hilfe – und das ungeachtet dessen, was sie getan haben, ungeachtet ihrer Nationalität, Hautfarbe und ihrer Religion.
Friedensnobelpreis
Schon nach kurzer Zeit erfolgt übrigens eine Ausweitung des Aufgabenbereichs: Nicht nur die Pflege von Kriegsopfern, sondern die Versorgung von Hilfsbedürftigen in allen erdenklichen Katastrophenfällen soll zur Aufgabe der neuen Organisation werden. Eine großartige Idee, befinden Jahre später auch die Mitglieder einer gewissen königlichen Akademie im schwedischen Oslo, die im Jahr 1901 zum ersten Mal einen Friedensnobelpreis auslobt. Der Geehrte und Ausgezeichnete ist Henri Dunant.
Das dunkle Kapitel
Ende gut, alles gut. An dieser Stelle enden zumeist die Berichte über die Gründung des Roten Kreuzes und seines Initiators und Gründers Henri Dunant. Leider gibt es ein weiteres zumindest für Dunant unschönes Kapitel, dass nur ungern erzählt wird. Von wegen „kein Wasser in Wein gießen…“ Dieses Kapitel betrifft die Zeit zwischen der Gründung des Roten Kreuzes und der Verleihung des Friedensnobelpreises.
Wie bereits angesprochen hatte Dunant in Algerien sein „Start Up“ der Weizenproduktion auf den Weg gebracht. Während er sich mit vollem Einsatz um die Gründung des Roten Kreuzes bemüht, kümmert er sich zu wenig um seine Geschäfte. Seine Mühlengesellschaft gerät in Schieflage, 1867 ist Dunant wirtschaftlich am Ende.
Persona non grata
Seine Familie steht vor dem Nichts. Und auch viele Freunde verlieren ihre Investitionen in Dunants Aktiengesellschaft. In Genf wird Dunant zur Persona non grata. Man zwingt ihn, seine Tätigkeiten in der Spitze von CVjM und Rotem Kreuz niederzulegen. Ein Bankrottier ist in diesen Organisationen nicht mehr tragbar, so meint man. 1868 verurteilt ihn ein Genfer Gericht offiziell wegen seines Bankrotts. Zu diesem Zeitpunkt hat sich Dunant bereits nach Paris durchgeschlagen, hält sich als Journalist über Wasser, lebt in äußerst ärmlichen Verhältnissen. Von seiner sozialen Idee geradezu besessen, wirbt er für eine „Allgemeine Fürsorgegesellschaft“. Fürsorge hätte er selbst bedurft. Überdeutlich wird dies, als er 1872 während eines Vortrags wohl wegen Hunger zusammenbricht.
Unter Brücken und in Bahnhöfen
Henri Dunant lebt unter Brücken und in Bahnhöfen, bis ihn der Stuttgarter Pfarrer Ernst Wagner aufnimmt. Dort verkriecht sich der Gründer des Roten Kreuzes, flieht jegliche Öffentlichkeit. Eine dringend notwendige Verschnaufpause, wenn auch keine von Dauer: Als Wagner stirbt, muss Dunant dessen Haus verlassen. Erneut in Paris und in London versucht Dunant Fuß zu fassen. Schließlich landet er im schweizerischen Dorf Heiden, lebt in einem Zimmer im dortigen Armenhospital – das Einzige, was seine Familie für ihn bezahlt. Ansonsten ist der Mann der öffentlichen Vergessenheit verfallen.
Dunant lebt!
Gott-sei-Dank gibt es dann doch so etwas wie ein Happy End: 1895 stellt eine Zeitung fest: „Der Gründer des Roten Kreuzes lebt!“ Die Nachricht jagt durch den gesamten europäischen Blätterwald. So wird auch die Schriftstellerin Bertha von Suttner auf Dunant aufmerksam. Und selbst Papst Leo XIII. interessiert sich für ihn, ehrt den mittlerweile so verarmten Mann. Etliche weitere Ehrungen folgen, 1901 dann eben auch der erste je verliehene Friedensnobelpreis. Zu diesem Zeitpunkt ist Dunant bereits 73 Jahre alt.
Neun Jahre später, am 30. Oktober 1910 und damit wenige Tage nach dem Geburtstag seines großen Werkes, stirbt Dunant, wird am Allerseelentag 1910 in Zürich begraben.
Begrabt mich wie einen Hund
Begraben zu werden wie ein Hund, ohne jegliche Zeremonie – in der Hoffnung, dass man ihm wenigstens diesen letzten irdischen Wunsch erfülle, verlässt Dunant diese Welt als gebrochener Mann. Er sei ein Jünger Christi wie im ersten Jahrhundert, sonst nichts, so ein Satz aus seinem Vermächtnis.
Schlimm, wenn ein Mensch trotz seines großartigen Lebenswerkes zeitlebens selbst sowenig Mitmenschlichkeit erfährt. Etwas, worüber es sich am heutigen Gründungstag des Roten Kreuzes, aber auch darüber hinaus, nachzudenken lohnt
Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.
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