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Dachdecker, Corona und der Kitt der Gesellschaft (25. November)

Die Einen nennen es Solidarität, die anderen Nächstenliebe. Beide Begriffe meinen etwas, was der Kitt für eine Gesellschaft ist: Nach dem anderen zu schauen, auf ihn zu achten, für den anderen da zu sein macht aus Einzelkämpfern erst eine Gemeinschaft. Ein besonders anrührendes Beispiel von Solidarität ereignete sich vor längerer Zeit im nordrhein-westfälischen Essen. Lesen Sie selbst.

Großbrand beim Dachdecker

60 Feuerwehrleute im Einsatz, von der Hitze verzogene Stahlträger, ein Dach am Rande der Einsturzgefahr – so die Bilanz eines Brandes in einer Dachdeckerfirma. Dabei hatte der Morgen gut angefangen: eine kurze Lagebesprechung des Firmenchefs mit seinen zehn Mitarbeitern, die dann zu den unterschiedlichen Baustellen fuhren. Der Chef selbst kurz außerhalb der Firma, bis ihn ein Anruf erreicht: eine Art Explosion auf dem Firmengelände, starker Qualm, das Anrücken der Feuerwehr. Mit Mühe vermeiden die Einsatzkräfte das Übergreifen des Feuers auf ein benachbartes Wohnhaus.

Existenz vieler Menschen gefährdet

Weil die Gasflaschen auf dem Firmengelände ordnungsgemäß gelagert sind, bleibt das Schlimmste aus. Gott-sei-Dank! Doch das, was passiert, reicht: Einzelne Fahrzeuge sind ausgebrannt, teure Spezialmaschinen vernichtet. Zwar ist alles gut versichert. Aber bis die Versicherung zahlt, bis die vernichteten Fahrzeuge und Spezialmaschinen ersetzt sind, wird es dauern. Bis dahin anstehende Aufträge wird die Firma, ein mittelständischer Familienbetrieb, nicht erfüllen können. Die Existenz der Mitarbeiter, der Eigentümer und ihrer Familien ist von einem Moment zum nächsten massiv gefährdet.

Ein Unglück, wie viele?

Was sich im nordrhein-westfälischen Essen zugetragen hat, ist ein Fall wie jeder andere. Ein Brand, wie er immer mal wieder vorkommen kann. Und leider auch immer wieder vorkommt. Klar, für die Betroffenen ist das schlimm. Aber so ist diese Welt: Immer, wenn etwas passiert, wenn es ein Unglück gibt, wenn jemand schwer erkrankt, wenn er seinen Besitz verliert oder wenn er gar stirbt: Für die Betroffenen und die, die zu ihnen gehören, ist das immer schlimm.

Die Welt dreht sich weiter

Alle anderen schauen am nächsten Morgen aus dem Fenster und stellen fest: Die Welt dreht sich trotzdem weiter. So, als wäre gar nichts geschehen. Was ja auch auf alle, die eben nicht persönlich betroffen sind, zutrifft. Deshalb ist das, was dem Dachdecker widerfahren ist, auch schlimm. Für ihn, für seine Familie, für seine Mitarbeiter und deren Familien. Aber letztlich so bedeutungslos im großen Getriebe dieser Welt, dass der Vorgang eigentlich gar nicht erwähnt werden müsste.

Solidarität der Dachdeckerbetriebe

Und trotzdem verursachte er Schlagzeilen. Denn hier passiert etwas ganz Besonderes: Um nämlich dem Familienbetrieb das Weitermachen zu ermöglichen, helfen vier andere Dachdeckerbetriebe aus der näheren Umgebung aus. Mitbewerber, wie es so schön neutral heißt. Oder weniger freundlich formuliert: Konkurrenten! Firmen, die froh sein könnten, wenn ein „Mitbewerber“ vom Markt verschwindet. Sie stellen Maschinen und Fahrzeuge zur Verfügung, helfen kurzfristig mit Werkzeug und sonstigem Arbeitsmaterial aus. Damit es weitergeht. Damit der Familienbetrieb eben nicht „den Bach runtergeht“, sondern „am Markt“ bleibt. Und somit dem Inhaber, seinen Mitarbeitern und ihren Familien die Existenz ermöglicht.

Mittelalter: „Erzwungene“ Solidarität

Im Mittelalter dachten die Menschen ähnlich: Gilden und Zünfte ließen nur so viel Bäcker, Schuhmacher, Schneider und vieles mehr in einer Stadt zu, dass alle ihr Auskommen hatten. Konkurrenz, die in Kampfpreisen und

einem ruinösen Verdrängungswettbewerb enden könnte, war durch die strengen Regularien ausgeschlossen. Sicherheit für alle!
Wer eklatant gegen die Spielregeln der Zünfte und Gilden verstieß, wurde sanktioniert. Zum Wohle aller in der Stadt. Im schlimmsten Fall musste er die Stadt verlassen. Die Stadtmauern waren letztlich auch ein Zeichen der Solidarität: Sie boten all jenen Schutz, die sich innerhalb dieser Mauern aufhalten durften. Etwas, was schon lange nicht mehr denkbar ist.
Die Welt gehört dem Tüchtigen! Wobei man heutzutage ja gar nicht tüchtiger sein muss. Hauptsache, der andere ist weniger tüchtig. Und notfalls hilft man ein bisschen dabei nach, dass der andere als weniger tüchtig gilt. Gefühlt handelt jeder zweite Kriminalfilm von derartigem Vorgehen.

Jemandem helfen, der Hilfe braucht

Wie wohltuend da doch die Dachdecker in Essen! Die praktizieren gelebte Solidarität, wenn Sie wollen, meinetwegen auch Nächstenliebe. Jemandem zu helfen, der gerade Hilfe braucht – großartig! Egal, wer er ist, egal, ob man selbst einen Vorteil davon hat oder nicht. Und sogar dann, wenn man sich mit ihm im sonstigen Leben in einer Konkurrenzsituation wiederfindet.
Wie meinen Sie? Solidarität brauchen wir gar nicht? Die staatlichen Sicherungssysteme haben Solidarität ersetzt? Der Staat wird es schon richten?

Der Staat wird’s schon richten?

Ja, es ist gut, dass unser Land über eine ganze Reihe von Sicherungssystemen verfügt. Aber Solidarität ist mehr als institutionalisierte Hilfe, geht vor allem über materielle Leistungen weit hinaus. Krisen wie jetzt die Corona-Pandemie zeigen: Wir sind verwundbarer, als wir geglaubt haben. Und die staatlichen Organe haben leider keine Kristallkugel, mit der sie in die Zukunft blicken können und alles vorher wissen. Leider wissen die politisch Verantwortlichen heute genau so wenig wie Sie und ich, was morgen kommt. Wer aber für viele Millionen von Menschen planen und Vorsorge treffen will und muss, der muss viele Dinge berücksichtigen. Dafür braucht er Zeit. Zeit, die wir unseren Politikern nicht zugesehen. Fehler übrigens auch nicht.
Dabei haben wir doch genügend Menschen in diesem Land, die alles früher und besser wissen. Und besser können. Tausende Schreier sind es. Wenn nicht Millionen. So wie wir Millionen von Bundestrainern haben, haben wir auch Millionen Coronaspezialisten. Millionen von Menschen, die hinterher leicht sagen können, sie hätten alles Mögliche vorher gewusst. Mit voller Windel ist nämlich gut stinken! Jederzeit nachzulesen in den Foren einschlägiger Online-Medien. [Wer in diesem Abschnitt Ironie finden sollte, darf sie übrigens behalten! Geschenkt!]

Solidarität in Coronazeiten

In diesen Tagen reden wir schlagartig wieder viel über Solidarität. Ausgelöst durch Corona, durch steigende Inzidenzen und Hospitalisierungsraten. Geimpfte werfen Impfverweigerern vor, unsolidarisch zu sein und sie in Geiselhaft zu nehmen. Die Impfgegner reden nicht von Solidarität. Ihre Vokabeln sind Impf-Diktatur und Zwang, Einschränkung ihrer Freiheiten. Klar, da prallen gerade zwei Fronten aufeinander. War unsere Gesellschaft jemals gespaltener als in diesen Tagen?

100.000 Todesopfer

Aktuell gehen Experten davon aus, dass in Kürze über 100.000 Menschen an oder wegen Corona gestorben sein werden. Eine erschreckende Zahl. Gerade jetzt, in dieser Krise, die die Bundeskanzlerin schon vor langer Zeit als größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnete, wäre Solidarität so wichtig. Stattdessen erleben wir das Gegenteil: Impfpässe, die im großen Stil gefälscht werden und mit denen einzelne gewissenlose Verbrecher Geld verdienen. Die, die diese Impfpässe nutzen, sind keinen Deut besser: Sie ermöglichen es nicht nur, das Virus weiterzuverbreiten. Sie tragen oft genug selber dazu bei. Was interessiert es mich, wenn ich einem anderen den Tod bringe? Das weiß ja keiner! Und der andere ist mir scheißegal!

Societas

Eine Gesellschaft lebt davon, dass ihre Mitglieder solidarisch miteinander sind. Der Blick ins Lateinische macht dies überdeutlich: „Societas“ bedeutet nun einmal Gemeinschaft, Gemeinsamkeit, Teilnahme, Verbindung. Alle Menschen, die eine Gesellschaft bilden, stehen in einer Verbindung zueinander. Und diese Verbindung, dieses Miteinander drückt sich nun einmal am ehesten darin aus, dass mir der Andere nicht egal ist. Wäre er mir egal, fiele er aus, dann ginge auch die Verbindung verloren. Der Untergang einer jeden Gesellschaft!

Bedingungslos

Solidarität und Nächstenliebe sind nicht berechnend, funktionieren nicht nach dem Motto: „Ich bin für dich da, wenn du dann dieses und jenes für mich tust!“ Solidarität und Nächstenliebe erfolgen bedingungslos. Ohne Vorbedingungen, ohne Berechnung. „Der ist gar nicht in der Lage, sich zu revanchieren – also trete ich erst gar nicht in Vorleistung!“ Auch wenn wir diese Einstellung in unserer Gesellschaft viel zu oft finden – hilfreich für eine Gemeinschaft ist diese Einstellung nicht. Aber, keine Frage, gut ist es natürlich, wenn Solidarität keine Einbahnstraße ist.

Kitt der Gesellschaft

Solidarität ist der Kitt einer Gesellschaft. Erst geht die Solidarität verloren, dann die Gesellschaft. Und am Ende ist niemand mehr da, den es interessiert, ob es mir gut geht oder ob ich elendig verrecke. Dann ist auch niemand mehr da, der mir hilft, wenn ich mir selbst nicht mehr helfen kann.
Mehr Solidarität statt Egoismus – von den Dachdeckern in Essen kann man eine Menge lernen. Übrigens nicht nur in Coronazeiten!

Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.

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