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Begegnung mit Judas. Was wäre, wenn…? (5. März)

Schweißnass und abgekämpft steht er vor mir, schaut mir direkt ins Gesicht und fragt: „Wenn ich meinen Verrat an Jesus ungeschehen machen könnte: Würdest du das überhaupt wollen?“ Vor mir steht Judas. Sie wissen schon: der Mann, der Jesus durch einen Kuss den Soldaten des Statthalters Pontius Pilatus ans Messer lieferte. Der Judaskuss, dieser Kuss des Verrats, ist seitdem sprichwörtlich geworden. Denn er hat maßgeblich dazu beigetragen, dass

Jesus Christus, nach christlicher Vorstellung der Sohn Gottes, ans Kreuz geschlagen wurde. Und jetzt steht dieser Judas direkt vor mir und fragt mich mit erhobener Stimme: „Wenn ich diesen Verrat ungeschehen machen könnte – würdest du das überhaupt wollen?“ Was für eine Szene! Ja, Sie haben schon richtig gelesen: Direkt angesprochen hat er mich. Mich und die, die um mich herum in dem kleinen, kahlen steinernen Gebäude zusammengekommen sind.

Wahrscheinlich fragen Sie sich jetzt: Was erzählt der denn da? Judas hat sich doch erhängt, weil er nicht damit klarkam, dass er Jesus ans Messer – oder besser: ans Kreuz geliefert hat. Und jetzt soll Judas mit ihm gesprochen haben?

Die Erklärung ist einfach: Eine liebe Freundin kam auf die Idee, dass wir mit unserer Clique – 4 Ehepaare – über ein verlängertes Wochenende verreisen. Aber warum gerade nach Schwäbisch Hall? Abgesehen davon, dass ich die Stadt in die weitläufige Umgebung von Stuttgart und Heilbronn verorten kann, weiß ich bis zu diesem Zeitpunkt nichts über sie. Und bin dann sehr überrascht. Viel Fachwerk, eine gotische Hallenkirche, ein barockes Rathaus, ein altes Spital auf einem uraltem Vorgängerbau; unzählige Aktionen, Feste und urige Märkte von Salzsiedern, Spielleuten, Krämern, Käseherstellern und mehr, die natürlich über das Jahr verteilt stattfinden und über die wir leider nur lesen. Aber hautnah erleben wir schwäbische Gemütlichkeit, großartiges, deftiges Essen und leckeres regionales Bier. Beim Anblick der großen Freitreppe vor der St. Michaelskirche fällt es uns nicht schwer, uns genau an dieser Stelle die jährlich stattfindenden Jedermann-Freilichtspiele vorzustellen. Ein großartiger Platz! Unsere Freundin hat bis hin zu Unterkunft alles bestens organisiert. Wie sie die Sache mit dem prächtigen Wetter hinbekommen hat, bleibt ihr Geheimnis. Wir anderen müssen uns nur „fallenlassen“ und mitmachen. Was wir natürlich gern tun. [Und schon zu diesem Zeitpunkt steht fest: Wir kommen zurück nach Schwäbisch Hall. Irgendwann. Garantiert!]

Zwei Dinge beeindrucken mich nachhaltig: Die Nachtwanderung mit einem Nachtwächter, der uns durch Sträßchen und Gässchen führt und dabei sachkundig und äußerst nachvollziehbar die Geschichte der Stadt wieder auferstehen lässt. Und die Begegnung mit Judas. Die fand, wenn ich mich recht erinnere, in der Urbanskirche statt – ein Schmuckstück unter den mittelalterlichen Bauwerken Schwäbisch Halls. Wohl eine aufgelassene Kirche, die auch als Außenstation der nahegelegenen Kunstsammlung Würth fungiert. Auch die Begegnung mit Judas hat unsere Freundin organisiert.


Natürlich war es nicht wirklich der historische Judas. Der hat sich, da lagen Sie richtig, ja erhängt, wäre ansonsten über 2000 Jahre alt. Eine Art Highlander, vielleicht. Einer, den der Verrat Jesu nicht ruhen lässt? Nein! Unsere Begegnung war noch dramatischer.
Der Schauspieler Gunter Heun schlüpft in dem Ein-Personen-Schauspiel „Judas“ der niederländischen Autorin Lot Vekemans in die Rolle des Judas hinein. Und der erzählt sachlich über sich, steigert sich hinein, gestikuliert, schreit, ringt mit sich selbst, tobt… um dann wieder sachlich und fast schon gespenstisch ruhig zu berichten: wie er diesen Jesus erlebt hat, was der in seinen Augen für ein Mensch war, wie der sich weigerte, die Chance zum Aufstand gegen die römische Besatzungsmacht wahrzunehmen. Und immer wieder Antworten gibt, über die man erst einmal nachdenken muss. Dazwischen immer wieder emotionale Ausbrüche eines Judas, mit dem man mitleidet, ja, Mitleid haben muss. Der mal stark und reflektiert wirkt, mal hilfloses Werkzeug zu sein scheint. Einer, der Dinge tun muss, die er eigentlich gar nicht tun will. Der gezwungen ist, die Geschichte zu erfüllen. Ein Verräter, ein Täter, der in Wirklichkeit ein Opfer ist? Einer, dem man nicht vergeben kann und der doch Vergebung verdient hätte wie kein Zweiter?

Gegen Ende des Stücks dann die alles entscheidende Frage. Längst ist dieser Judas schweißnass von seinem inneren Kampf, den wir, sein Publikum, als äußeren Kampf miterleben. Längst sind wir atemlos. Und dann kommt sie, die herausfordernde Attacke, die ganze Weltbilder in sich zusammenbrechen lässt, zumindest aber infrage stellt: „Wenn ich den Verrat an Jesus ungeschehen machen könnte: Würdest du das überhaupt wollen?“
Ich weiß nicht mehr genau, ob Judas fragte, „Würden Sie das wollen“ oder „Würdest du das wollen“. Ich weiß nur: Die Frage geht an jeden einzelnen im Publikum. Achtung, Wortspiel: Weil sie angeht, geht sie an! Sie springt jeden geradezu an. Weil sie jeden herausfordert, jeden betrifft. Begleitet von einem Blick, mit einer Intensität, die unter die Haut geht. Ja, ich hatte Gänsehaut. Und nicht nur ich. Mich und auch unsere Freunde beschäftigt diese Frage des Judas den ganzen restlichen Abend, lange nach Ende des Theaterstücks. Und auch in den nächsten Tagen und Wochen kommt sie immer wieder zum Tragen: Würde ich es überhaupt wollen, dass Judas seine Tat ungeschehen machen könnte?
Was wären die Konsequenzen? Was würde sich verändern? Hätte Jesus seine Streitigkeiten mit den frommen Juden seiner Zeit überlebt? Wäre er der Herrschaftsclique, die mit den römischen Besatzern kollaborierte und von ihnen profitierte, nicht dennoch ein Dorn im Auge gewesen? Hätte sie einen anderen Weg finden müssen, um Jesus zu beseitigen? Und was ist mit diesem Erlösungsgedanken? Gestorben, um die Menschen mit Gott zu versöhnen? Wären wir jetzt unversöhnt mit Gott? Wäre das Christentum ohne den Verrat des Judas und ohne den Tod Jesu überhaupt entstanden? – Fragen über Fragen. Was wäre, wenn…? Antworten weiß ich keine. Bis heute nicht. Auch nicht auf die Frage, warum die christliche Religion, deren Hauptgedanke die Vergebung ist, ausgerechnet einer ihrer wichtigsten Schlüsselfiguren nicht vergeben kann.

Trotz aller Zerrissenheit der Judasfigur, die ein großartig agierender Gunter Heun mit einer unglaublichen schauspielerischen Energieleistung auf die Bühne bringt, bleibt da ein winzig kleiner Hoffnungsschimmer: Dass es Gott trotzdem mit den Menschen gut meint. Dass er die Menschen liebt und trotz aller negativen Ereignisse hilft, einen guten Weg zu finden, das Leben zu meistern. Wirklich Hoffnung? Oder nur anerzogen? Und gilt das auch für Judas? Die Historie mit seinem Verrat und anschließendem Selbstmord scheint das Gegenteil zu zeigen.
Schuld und Vergebung – ein Thema, das einen, wenn man ernsthaft darüber nachdenkt, nicht mehr loslässt. Aber dazu beiträgt, sein Leben, sein Handeln intensiver zu reflektieren.

Danke, liebe Freundin, für dieses Erlebnis und die lebensbegleitenden Fragen. Danke Gunter Heun. Und vor allem: danke Judas!

Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten. Begegnung mit Judas. Was wäre, wenn…? (5. März)

Kommentare

1 Kommentar

Alice Klemens

Man hat in unserem Alter schon viel erlebt und gesehen. Im Rückblick bleiben uns aber nur einige Erinnerungen, das sind die, die uns begeistert und beeindruckt haben. Die Begebenheit in dieser kleinen Kirche in Schwäbisch Hall war eine davon. Es bleibt die Frage: „was wäre wenn…?“
Grüße von Eurer Freundin


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