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5. Februar – 85 Jahre Charlie Chaplins „Moderne Zeiten“ (Modern Times)

Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.

5. Februar – 85 Jahre Charlie Chaplins „Moderne Zeiten“ (Modern Times)

Zweifingerschnurrbart, viel zu große Hose, überdimensionale Schuhe, Spazierstöckchen und eine Melone auf dem Kopf – der kleine Tramp, der sich immer irgendwie durchs Leben schlägt, ist die Figur, die Charlie Chaplin weltbekannt gemacht hat: auf der einen Seite die Würde eines Gentleman, auf der anderen immer wieder tragische Elemente, die sich in Slapstick-Einlagen entladen und den kleinen Helden schwer treffen. Allerdings nie so schwer, dass er ernsthaft verletzt wäre oder untergehen würde. So als wolle Chaplin sagen: Die Hoffnung lebt bis zum Schluss. Immer – trotz aller kleinen und großen Niederlagen.
Am 5. Februar 1936, also heute vor 85 Jahren, feierte Chaplins Film „Moderne Zeiten“ in New York Premiere. Der Film parodiert den Ausbruch der Weltwirtschaftskrise. Im kollektiven Gedächtnis der Welt dürfte diese Szene haften geblieben sein: Ein Arbeiter schraubt zu langsam, verfängt sich an einem Werkstück und wird gnadenlos in das Innere einer Maschine hineingezogen. Und da sitzt er dann zwischen gewaltigen Zahnrädern, Kugellagern und anderen mechanischen Teilen. Symbolträchtiger kann der Kampf des Menschen gegen Maschinen, gegen die blanke Not und gegen Ausbeutung kaum dargestellt werden. Es ist der letzte Stummfilm Chaplins, der letzte, in dem er den kleinen Tramp spielt, der wieder einmal verzweifelt versucht, sich gegen alle Schicksalsschläge, gegen alle Widerwärtigkeiten des Lebens durchzuschlagen. Obwohl 1936 längst der Tonfilm regiert, sind in Chaplins Film nur Musik, darunter allerdings auch Chaplins Singstimme, und Geräusche zu hören – bis ausgerechnet der Fabrikbesitzer kurz und drohend spricht. Der thront auf einer riesigen Projektionsfläche und überwacht seine Arbeiter. Eine gruselige Szene.

Wer diese Szenerie in Gänze verstehen will, muss einen Blick in die Kindheit des gefeierten Schauspielers und Regisseurs werfen: Charlie Chaplin hatte ganz sicher das, was man heute als „schwere Kindheit“ bezeichnen würde. Geboren wird er am 16. April 1889 in London, die Mutter, Hannah, ist Tänzerin, der Vater, ein alkoholsüchtiger Sänger und Entertainer, trennt sich kurz nach Charlies Geburt und zahlt in der Folge selten bis nie Unterhalt. Mit 19 Jahren brachte Hannah bereits ein uneheliches Kind (man beachte die gesellschaftliche Situation im ausgehenden 19. Jahrhundert!) zur Welt, Charlies vier Jahre älterer Halbbruder Sydney, der bei seiner Mutter bleibt. Erst in den 1910er Jahren finden Charlie und Sydney heraus, dass sie mit Wheeler Dryden einen weiteren Halbbruder haben. Bereits als Säugling hatte dessen Vater Wheeler von der Mutter getrennt, da Hannah unter psychischen Problemen litt. Als Charlie sieben Jahre alt ist, ist die Mutter psychisch dermaßen instabil, dass sie ihren Beruf nicht mehr ausüben kann. Im Laufe der nächsten Jahre wird sie in verschiedene psychiatrische Kliniken eingeliefert und 1905 für geisteskrank erklärt. Charlie, Sydney und, solange sie mit den Kindern zusammenlebt, Hannah leben in großer Armut. Als letzte Zuflucht bleiben nur die Armenhäuser Londons, die die kleine Familie immer wieder aufsuchen müssen. Zunehmend sorgt Sydney für den Unterhalt von Charlie und anfangs auch der Mutter. Weil der Vater 1901 stirbt, müssen Charlie und Sydney zwischenzeitlich in ein Waisenhaus. Die Halbbrüder kennen also seit ihrer frühesten Kindheit das Leben und seine zum Teil entsetzlichen Abgründe, was ihnen allerdings in ihren späteren Professionen – auch Sydney wird Schauspieler – auf unterschiedliche Weise zugutekommt.

Bereits als Fünfjähriger tritt Charlie erstmals vor Publikum auf, bekommt als Neunjähriger auf Empfehlung des Vaters ein Engagement bei den „The Eight Lancashire Lads“, was ihm zumindest während der Tourneen den Lebensunterhalt sichert. Außerdem erhält er in dieser Zeit ein Minimum an schulischer Ausbildung. Mit dreizehn Jahren allerdings verlässt Charlie die Schule und schlägt sich mit Gelegenheitsjobs wie Laufbursche, Zeitungsverkäufer, Drucker, Glasbläser und am Theater durch: Nach seinem Engagement bei „The Eight Lancashire Lads“ gelingt es Charlie wie auch Sydney, an verschiedenen Bühnen in London Engagements zu finden.
Ein Vertrag mit dem Theaterproduzenten Frederick John Westcott, der als Fred Karno reüssiert, wird zum Karrierebeschleuniger: Charlie erhält die Möglichkeit zur Teilnahme an zwei Tourneen in den USA. In New York unterschreibt später er einen Vertrag mit einem, später anderen Filmstudios, wird in der Folge auch Regisseur. In allen Filmen, in denen Chaplin von nun an auftritt, abgesehen von „Tillie’s Punctured Romance“, ist Chaplin sein eigener Regisseur. Seine Filme, so Chaplin selbst, bauten darauf auf, dass er sich selbst in Schwierigkeiten bringe und dann verzweifelt versuche, die entstandenen Probleme als kleiner Gentleman zu bewältigen. Man kann dies auch anders formulieren: Zeitlebens versucht der kleine Mann die schweren Narben und Verletzungen seiner Kindheit, für die er selbst nichts kann, zu verarbeiten und dabei den Humor, die Freude am Leben zu bewahren, ohne seine Würde nicht zu verlieren. In diesem Sinne lassen sich vor allem die Filme, in denen Chaplin als „kleiner Tramp“ zu sehen ist, als Tragikkomödien im besten Wortsinn verstehen: immer wieder tragisch und trotzdem humorvoll, wie die zu jener Zeit angesagten Slapsticks belegen.

Zurück also zum kleinen Tramp mit Melone, Spazierstock, Bärtchen und den viel zu großen Schuhen, zurück zu „Moderne Zeiten“:

Es geht kaum sinnbildlicher als mit dieser Figur, dass der Mensch an sich aufgrund des Tempos der gesellschaftlichen Entwicklung in Schuhen steckt, die für ihn eine Nummer (oder auch mehrere Nummern) zu groß sind. Der Mensch kommt mit den rasanten Abläufen eines gesellschaftlichen Transformationsprozesses einfach nicht mit – zumindest trifft das auf die Masse der körperlich arbeitenden Menschen zu. Sie verkommen zu Rädchen im Getriebe, verfangen sich im Räderwerk der Maschinen. Dadurch verlieren sie ihre Würde – die Würde, die der kleine Tramp trotz all seiner Probleme immer wieder zu wahren versucht. Trotz allen Scheiterns!

Vier Jahre lang arbeitet Chaplin an diesem Film. In der Betrachtung aus heutiger Sicht muss man sich immer wieder vergegenwärtigen, dass es sich um einen Stummfilm handelt. Der enthält allerdings trotzdem in zwei Szenen Sprechton. Zwei Szenen, die dadurch zu Schlüsselszenen werden: Dass ausgerechnet der Fabrikbesitzer in einer drohenden Ansprache zu hören ist, verstärkt die Ängste des Films. Eine weitere Schlüsselszene ist die zweite Stelle mit Sprechton: Als der kleine Tramp in einem Restaurant für die Gäste singen soll, vergisst er im entscheidenden Moment den Text und singt in einer absurden Phantasiesprache. Wieder ein Moment des Scheiterns, wie er grotesker, weil gegensätzlicher, nicht sein kann. Natürlich wird der kleine Tramp gefeuert; natürlich findet er auch in dieser Arbeit nicht das Glück, nach dem Chaplin seit seiner Kindheit sucht. Das soll keineswegs heißen, dass sich Chaplin angesichts der Neuerungen des Films als gescheitert sieht und aufgibt. Aber es heißt wohl, dass die Geschichten rund um den kleinen Tramp auserzählt sind.

Genau mit dieser Szene, vielleicht auch mit dem gesamten Film, gibt Chaplin ein beeindruckendes künstlerisches Statement ab: Ein letztes Mal zeigt er, dass es keiner (oder nur ganz weniger) Worte bedarf, um eine eindrucksvolle Geschichte zu erzählen. Erst 2013 erneuert Robert Redford im Film „All Is Lost“, in dem Redford einen Schiffbrüchigen spielt, diese Idee: fast kein Wort, aber eine große Geschichte!

Als „Moderne Zeiten“ am 5. Februar 1936 uraufgeführt wird, ist das New Yorker Premierenpublikum begeistert. Möglicherweise war der Film für die Zuschauer das, was er auch heute noch ist: eine eindringliche Mahnung gegen Ausbeutung. Der Mensch lebt nicht, um zu arbeiten. Er arbeitet, um zu leben. Um frei zu sein für sich selbst und für seine Mitmenschen. Wo der Mensch zum funktionierenden Rädchen verkommt oder degradiert wird, gibt er sein Menschsein auf, verliert er seine Würde. Und bleibt am Ende als Mensch auf der Strecke.

Konservative Kreise und Behörden in den USA hatten 1936 eine andere Einschätzung: Zwar hätte man darauf kommen können, dass hier Teile der katholischen Soziallehre (Papst Leo XIII., Rerum Novarum; Papst Pius XI. Quadragesimo anno) Pate standen. Aber der Blick zu Marx, der auf vollautomatische Fabriken hofft, durch die der entrechtete Mensch befreit wird vom Kampf um das Lebensnotwendige und damit frei wird für die schönen Künste, liegt scheinbar näher. Chaplin wird als antikapitalistisch und kommunistisch angefeindet, auch wenn er vergeblich beteuert, „Moderne Zeiten“ sei keine politische Satire, sondern lediglich Unterhaltung. Als er dann noch 1940 „Der große Diktator“ veröffentlicht, damit den Faschismus parodiert und der Lächerlichkeit preisgibt, wird der Film fälschlich auch auf den US-amerikanischen Staat und seine militärische Stärke bezogen. Die künstlerische Betätigung Chaplins wird mehr und mehr als staatszersetzend angesehen. Ab Oktober 1947 muss er mehrfach vor dem gefürchteten Komitee für unamerikanische Umtriebe aussagen und sich dort für sein Schaffen verantworten. Als Chaplin 1952 vorübergehend nach England reist, sorgt Kommunistenjäger und FBI-Chef J. Edgar Hoover dafür, dass Chaplins Wiedereinreisegenehmigung für nichtig erklärt wird. Erst zwanzig Jahre später, 1972, erhält Chaplin erneut eine Einreisegenehmigung in die USA, allerdings auf zehn Tage befristet. In dieser Zeit nimmt Chaplin einen Ehren-Oscar für sein Lebenswerk und für „Moderne Zeiten“ entgegen. Filme und Romane zwischen 1952 und Chaplins Tod am 25. Dezember 1977 in der Schweiz sowie seine Lieder sind eine andere, separate Geschichte.

P.S.: Bob Dylans 2006 veröffentlichtes Album „Modern Times“ hat übrigens nichts mit Chaplins Film zu tun, sondern enthält Zitate und Motive des römischen Exildichters Publius Ovidius Naso (Zeitenwende) und Journalisten Henry Timrod, der im 19. Jahrhundert für seine Glorifizierung der US-amerikanischen Südstaaten bekannt wurde.

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