Streik auf Leben und Tod – Aufstand schlesischer Weber 1844 (4. Juni)
Schnapszahlen, auf die man wohl nur ungern anstoßen wird: Vom 4. bis zum 6. Juni 1844 streikten in Schlesien die Weber. 1844, vor 77 Jahren. Unmenschliche Arbeitsverhältnisse, die auch vor Schwangeren und kleinen Kindern nicht Halt machten, dazu eine Entlohnung, die nicht einmal dazu reichte, den Hunger zu stillen – mehr als Grund genug, die Arbeit niederzulegen. Ein Streik, der ohne
den deutschen Dichter und Schriftsteller Gerhart Hauptmann vermutlich gar nicht so sehr in Erinnerung wäre. Denn der Mann, der 1912 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, gab mit seinen naturalistischen Dramen den „Underdogs seiner Zeit“ eine Stimme. Den Streik der schlesischen Weber verarbeitete er in seinem vielleicht bekanntesten Drama. Sie ahnen schon, wie es heißt: Die Weber.
Frühe Streiks
Neu waren Streiks zu diesem Zeitpunkt nicht. Schon im zwölften Jahrhundert vor Christus legten Arbeiter im alten Ägypten die Arbeit nieder. Davon zeugt ein Papyrus, das vollständig ausgewertet wurde. Die Arbeiter sollten an den Königsgräbern in West-Theben bauen, hatten aber seit fast drei Wochen nichts mehr zu beißen bekommen. Wie nun der damals herrschende Ramses III. reagiert hat, ist nicht überliefert. Da die Gräber aber fertiggestellt wurden, darf man davon ausgehen, dass der Herrscher seinen Untertanen zumindest wieder die üblichen Getreiderationen lieferte.
Strike the sail
Im Deutschen gibt es kein eigenes Wort dafür, wenn jemand die Arbeit einstellt, um so von seiner Seite im Arbeitskampf ernst zu machen. Wir behelfen uns mit einem Lehnwort aus dem Englischen. Angeblich entstehen Wort und Wortgebrauch im Jahr 1768 in nordost-englischen Sunderland, also in der Nähe der Stadt Newcastle. Dort streikten Seeleute. Konkret hieß das: Sie ließen die Segel der Schiffe an den Rahen herunter und hinderten so die Segelschiffe (sic!) am Auslaufen. Strike the sails, die Segel streichen wurde als Kurzform innerhalb weniger Jahre überall in Großbritannien bekannt. So streikten – ebenfalls 1768 – die Hutmacher, aber auch die Arbeiter in den walisischen Kohlengruben: entweder gibt es mehr Lohn, bessere Arbeitsbedingungen und am besten beides, oder aber selbst die Wohlhabenden frieren und können keine neuen Hüte mehr kaufen. Undenkbar! Lange 50 Jahre nachdem das Wort „strike“ in diesem Sinne in Sunderland geprägt wurde, hielt es auch in Deutschland Einzug. Und darüber hinaus als Lehnwort in viele andere Sprachen Europas. Bis heute geht es beim Streik immer um dasselbe: mehr vom großen Kuchen für die, die den Buckel hinhalten. Oder sie halten den Buckel eben nicht mehr hin.
Gerhart Hauptmann und Die Weber
Wobei die ganze Angelegenheit früher weitaus gefährlicher war als heute. Nachzulesen eben bei Gerhart Hauptmann und „Die Weber“. Damals ging es nicht um Konsum, erst recht nicht um Luxus. Damals ging es ausschließlich ums nackte Überleben. Immer mehr mechanische Webstühle in großen Fabriken nahmen den armen, traditionellen Weberfamilien ihre Erwerbsquelle, spülten stattdessen immer größere Gewinne in die Taschen der Fabrikanten. Und die drückten unbarmherzig die Preise für das, was ihnen die Weber lieferten. Nun könnte man sehr neutral sagen: ein klarer Fall von nicht funktionierendem Strukturwandel. Das wäre richtig. Nur wurden einerseits die Weberfamilien ausgepresst wie Zitronen. Und als es nicht mehr auszupressen gab, als die Weber sich nicht anders zu helfen wussten, als mit einem Aufstand gegen die unmenschlichen Arbeitsbedingungen vorzugehen, wurde ihr Aufstand blutig niedergeschlagen.
Streikrecht und Sozialgesetzgebung
Ja, damals – das waren andere Zeiten. Ein Streikrecht gab es nicht, Gewerkschaften auch nicht. Und wer glaubt, dass die Streikenden aus mehr oder weniger vollen Streikkassen zumindest einen Teil ihres üblichen Verdienstes bekamen – Pustekuchen. Keine Arbeitsleistung, kein Geld. Wenn Vater, Mutter und etliche Kinder schon mehr oder weniger rund um die Uhr arbeiten und der Verdienst nicht zum Leben reicht, dann überlegt man sich dreimal, ob man streikt. Denn dann bekommt man noch weniger, ist der Hunger ein dauerhafter Begleiter.
Von wegen Hartz IV, Grundsicherung, Arbeitslosengeld oder Krankenversicherung. Bismarck führte seine Sozialgesetzgebung, mit dem, was wir heute kennen, noch lange nicht vergleichbar, erst 1889 ein. Schrittweise. Hier beginnt zwar die Entwicklung des Sozial- und Wohlfahrtsstaates. Aber noch einmal: Hier beginnt sie erst! Und das sehr zaghaft. So zaghaft übrigens, dass damals viele Arbeiter glaubten, es handele sich um ein pures Ablenkungsmanöver. Es dauerte eine Weile, bis sie begannen, das anders zu sehen. Zu diesem Zeitpunkt aber war der schlesische Weberaufstand schon 55 Jahre vorbei, betrafen die Sozialgesetze quasi erst die Enkel und Urenkel der damals Streikenden. Denn die Lebenserwartung lag Mitte des 19. Jahrhunderts bei unter 36 Jahren für Männer, bei etwas über 38 Jahren für Frauen. Auswirkungen auf den Streik also 55 Jahre später – so weit konnte damals niemand in die Zukunft denken. Taten die Weber auch nicht. Es ging darum, was man abends essen könnte. Erst danach würde man die Frage klären, nicht was, sondern ob es am nächsten Abend etwas zu beißen gäbe.
Kampf um den Zehnstunden-Tag
Als Hauptmanns Drama „Die Weber“ 1893 uraufgeführt, ist also der große schlesische Weberaufstand längst Geschichte. Trotzdem stellte sich überall die so genannte „Soziale Frage“ immer noch. Und ich gestehe gern: Hauptmann stellte die unseligen Ereignisse aus dem 19. Jahrhundert so dramatisch dar, dass für mich als Schülerin sogar der ansonsten langweilige Deutschunterricht spannend wurde. Spannend und lebensnah. In diesem Fall: schrecklich lebensnah! Leider! Denn was Hauptmann da schrieb, ging unter die Haut. Vielleicht schärften gerade Hauptmanns Dramen meinen Blick für soziale Brennpunkte in Gegenwart und Geschichte. Ohne Hauptmann hätte ich nie zur Kenntnis genommen, dass zehn Jahre nach der Aufführung seines Stücks wieder Weber streikten – dieses Mal in Sachsen. Lohnerhöhung und den Zehnstunden-Arbeitstag wollten sie durchsetzen. Und sie schafften das, trotz massiven Drucks durch die Behörden. Als ich das zum ersten Mal das, dachte ich, es handele sich um einen Druckfehler! Den Zehnstunden-Arbeitstag wollten sie durchsetzen? Was ja wohl hieß: Gearbeitet wurde weitaus mehr. Jeden Tag. Nicht etwa als Ausnahme. Heute reden wir über eine Arbeitszeit von 40 Stunden oder weniger pro Woche, haben eine Gesetzgebung, die die tägliche Arbeitszeit bei zehn Stunden maximiert. Arbeitgeber dürfen Arbeitnehmer nicht eine Minute länger arbeiten lassen. Ansonsten machen sie sich strafbar. Davon waren die Sachsen 1854 noch weit entfernt, die Weber zehn Jahre zuvor noch weiter. Was für mich bedeutet: Steter Tropfen höhlt den Stein.
Katholische Soziallehre
Zum Glück hat sich gesellschaftlich einiges verändert. Die heute viel gescholtenen Kirchen hatten für die kleinen Leute Partei ergriffen, die Katholische Kirche hatte ihre so genannte „Katholische Soziallehre“ entwickelt. Vorreiter war der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler. Der lebte zwischen 1811 und 1877 und wurde 1850 Bischof von Mainz. Weil er sich für die einfachen, für die kleinen Leute einsetzte, nannte ihn der Volksmund bald „Arbeiterbischof“. Er war es, der die Arbeiter aufrief, sich zu organisieren und gemeinsam für bessere Arbeitsbedingungen einzutreten. 1849 entstand so der erste katholische Arbeiterverein, dem viele weitere folgten, was schließlich zur Gründung der „Katholischen Arbeiterbewegung“, später „Katholische Arbeitnehmerbewegung“ (KAB) führte. Als dann noch Papst Leo XIII. 1891 das in der Geschichte erste verpflichtende Rundschreiben zu sozialer Verantwortung Besitzender und zu sozialer Gerechtigkeit veröffentlichte, nannte man diesen Papst schnell – und sehr zutreffend – Arbeiterpapst. Für die, denen eine kirchensprachlichere Formulierung lieber ist: Es handelt sich um die Sozialenzyklika „Rerum Novarum“. Gut so?
Vom „Wichernhaus“ zur „Inneren Mission“
Und bevor jemand auf die Idee kommt, die Bemühungen in den evangelischen Kirchen würden ausgespart: Hier ist an vorderster Stelle der Theologe und Pädagoge Johann Hinrich Wichern zu nennen. Als Pädagoge erlebte er hautnah die Verarmung von Hafenarbeitern in Hamburg und sah, ganz Theologe, vor allem deren sittliche Verwahrlosung, wie man das damals nannte. In Hamburg Horn gründete er 1833 das Rauhe Haus. In der Anfangszeit wurden hier straffällig gewordene oder anderweitig verhaltensauffällige Hamburger Kinder resozialisiert. Gedacht war damals vor allem an eine Tätigkeit im Handwerk oder als Dienstmädchen. Dass 1855, also 22 Jahre später, rund drei Autominuten entfernt die Hamburger Galopprennbahn erbaut wurde, so dass in Entfernung eines Steinwurfes zwei unterschiedliche Lebenswelten aufeinanderprallen, ist allenfalls als Kuriosum der Geschichte zu werten. Weitaus bemerkenswerter ist, dass Wicherns Idee in den Evangelischen Kirchen erst einmal äußerst kritisch gesehen wurde. Erst als sich daraus auf dem Evangelischen Kirchentag von 1848 der Gedanke der „Inneren Mission“ ableitete, fand Wicherns Idee Anklang. Ähnlich wie katholischerseits Kolpinghäuser aus dem Boden sprossen, waren es evangelischerseits die Wichernhäuser, wenngleich auch die Zielgruppen nicht dieselben waren.
Guter Lohn für gute Arbeit
Zurück zu den sozialen Forderungen der Kirchen: „Guter Lohn für gute Arbeit“ – so könnte man die Forderungen von damals ganz modern zusammenfassen. Gegen Ausbeutung, für soziale Verantwortung der Unternehmer, gegen Gewinne der Einen zu Lasten ausschließlich der Anderen – auch das ist eine Form der Zusammenfassung der kirchlichen Leitlinien von damals. Bismarcks Sozialgesetzgebung wirkt aus der Rückschau so, als habe sich der Staat dem Druck der einfachen Menschen und der Entwicklung in den Kirchen gebeugt. Und leider muss auch heute immer wieder einmal daran erinnert werden, dass es Menschen in unserem Land gibt, die trotz aller sozialer Gesetzgebung am Rand des Existenzminimums leben müssen oder sogar darunter.
Dass wir diese Sozialgesetzgebung überhaupt haben, ist auch den Menschen zu verdanken, die vor über 150 Jahren mit der Gefahr für ihr Leben gegen die totale Ausbeutung protestieren. Wir einfachen Leute profitieren davon bis heute. Grund genug, in diesen Tagen an den Weberaufstand vom 4. bis zum 6. Juni 1844 zu erinnern.
Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.
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