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Gegen das Vergessen – Aus „The Forgotten Prisoners“ wird Amnesty International (28. Mai)

„Warum tanzen die Frauen hier eigentlich allein? Warum ist diese Traurigkeit in ihren Augen? Warum sind all diese Soldaten hier?“ – Gestern Abend, die Außengastronomie hat wieder geöffnet, aus den Außenlautsprechern dringt leise Stings „They Dance Alone“. „Ein trauriger Song“, sagt ein Bekannter wissend. „Denn die Frauen, die da tanzen –
das sind Witwen, Mütter, Töchter und Schwestern von Verhafteten. Von spurlos Verschwundenen und oftmals von Ermordeten der chilenischen Militärdiktatur. Diktator Pinochet herrschte dort viele Jahre mit brutaler Gewalt. Wer sich ihm in den Weg stellte, verschwand. Und meistens tauchten die Verschleppten nie wieder auf.“ Mit seinem Song unterstützt Sting ganz bewusst Amnesty International. Eine Organisation, zu deren Wirken der Rechtsanwalt Peter Benenson heute vor 60 Jahren den Anstoß gab.

Artikel im „Observer“

Als Benenson im Mai 1961 in der U-Bahn sitzt und wie immer in der Zeitung liest, stößt er auf einen Artikel, der ihn nachdenklich macht: In Portugal wurden zwei Studenten verhaftet, nur weil sie in einer Kneipe einen Toast auf die Freiheit ausriefen. Benenson will das nicht stehen lassen, will den Verhafteten eine Stimme geben. Also schreibt er einen Artikel, den der englische „Overserver“ heute vor 60 Jahren druckt: „The Forgotten Prisoners“, „Die vergessenen Gefangenen“. 30 Zeitungen drucken diesen Artikel nach. Mit ihm will Benenson Inhaftierten eine Stimme geben, will, dass Gefangene nicht einfach „vergessen“ werden. Man muss nicht an Mantel- und Degenfilme denken, um zu wissen: Bereits in vergangenen Jahrhunderten war es Praxis, unliebsame Zeitgenossen einfach verschwinden zu lassen. Und sie an geheimen Orten jahrelang, manchmal lebenslang gefangenzuhalten, In der Neuzeit ist das nicht anders. Aus Benensons Zeitungsartikel entsteht die Menschenrechtsorganisation „Amnesty International“.

Charta der Menschenrechte

Völkermord in Bosnien und Ruanda, Ausschreitungen gegen Fremde im fernen Südafrika, aber auch in Europa, überall auf der Welt gibt es Menschenrechtsverletzungen. Die dürfte es eigentlich gar nicht geben. Denn seit 1948 gilt eine Charta der Menschenrechte – völkerrechtlich bindend, von den meisten Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen unterschrieben. In ihr steht sinngemäß: „Niemand darf wegen seiner politischen oder religiösen Einstellung

verfolgt, gequält, misshandelt oder gar ermordet werden.“ Leider hat diese Vereinbarung wenig gebracht. Damals wie heute treten brutale Machthaber die Menschenrechte mit Füßen. Sie foltern, verschleppen, quälen und erniedrigen Menschen wegen ihrer politischen oder religiösen Einstellung. Oder sie inszenieren Scheinprozesse, in denen sie unliebsame politische Gegner wegen angeblicher Vergehen aus dem Verkehr ziehen – auch unter offensichtlicher Beugung des Rechts.

Amnesty im Kreuzfeuer

Amnesty International deckt solche Fälle auf, engagiert sich gewaltlos gegen Verschleppung, Folter und Todesstrafe. Wo immer derartiges Unrecht geschieht, bringt Amnesty dies in die Weltöffentlichkeit. Was den Angeprangerten nicht sonderlich gefällt. Und weil getroffene Hunde bellen, beschuldigen zum Beispiel während des Kalten Krieges beide Seiten die Organisation, Handlanger des jeweils politischen Gegners zu sein. In Wirklichkeit ist Amnesty International von Anfang an auf politische Neutralität bedacht. Grund genug, um der Organisation 1977 den Friedensnobelpreis zu verleihen, was der Stimme der Organisation ein noch größeres Gewicht verleiht. Jahr für Jahr geißelt sie in ihrem so genannten „Amnesty International Report“, einer Art Jahresbericht, Missstände. 2005 setzt sie sogar die USA auf ihre „schwarze Liste“.

Auch Deutschland angeprangert

Im aktuellen Report wird auch Deutschland benannt. Handlungsbedarf bestehe beim Schutz vor Rassismus und bei Kontrollmechanismen für die Polizei. Vor allem aber steht aktuell der Umgang mit der Corona-Pandemie im Blickpunkt: Weltweit hätten viele Regierungen die Pandemie dazu missbraucht, um die Versammlungsfreiheit zum Nachteil ihrer politischen Gegner über Gebühr einzuschränken. Viele Regierungen hätten zudem beim Schutz so genannter vulnerabler Gruppen versagt. Hier denkt Amnesty vor allem an Krankenschwestern und Ärzten, die in ihrem Bemühen um Patienten durch das Fehlen von geeigneten Schutzmaßnahmen ihr Leben verloren haben. Ein klares Signal, dass sich der Blick von Amnesty International in den 60 Jahren des Bestehens geweitet hat.

Wirkung durch Aufdeckung und Bewusstmachung

60 Jahre und kein bisschen leise? Gott-sei-Dank, ja! In rund 140 Staaten wirkt Amnesty International mittlerweile als schlechtes Gewissen. Ob die Arbeit der Organisation dazu geführt hat, dass die Menschenrechte besser eingehalten werden, lässt sich nicht evaluieren. Wie auch? Niemand weiß, wie viele Gefolterte und Hingerichtete es ohne die Arbeit von Amnesty gäbe. Sicher ist aber, dass von Amnesty angestoßene Medienberichte, Briefe, vielleicht auch dieser Text hier zur Bewusstmachung der Probleme beitragen. So übt Amnesty Druck auf die Politik aus. Berichte, die das Fehlverhalten von Polizisten, Mitarbeitern im Justizvollzug, von Staatsoberhäuptern, Regierungen und Unrechtsregime brandmarken, zeigen Wirkung: Heute ist es viel schwieriger als früher, politische Gefangen „einzukerkern“ und in Vergessenheit geraten zu lassen. Amnesty International bleibt dran. Und genau das ist es, was Peter Benenson mit seinem Artikel „The Forgotten Prisoners“ erreichen wollte.

Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.

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