Drücken Sie Enter, um das Ergebnis zu sehen oder Esc um abzubrechen.

Walker, Tom – Freaking Out

Vom Tellerwäscher zum Millionär – aus den Abenteuerromanen von Jack London sind derart abenteuerliche Karrieren kaum wegzudenken. Aber Jack London ist schon über 100 Jahre tot. Und die von ihm beschriebenen Karrieren aus schwierigen sozialen Verhältnissen hin zu Ruhm und Reichtum sind, na ja, nun mal eben Romane. Fiktion also. Mit dem wirklichen Leben haben sie herzlich wenig zu tun.

Steile Karrieren

Es sei denn… man guckt ins Pop- und Rockbusiness. Joe Cocker war Gasinstallateur, Tom Jones gelernter Bergmann und Ozzy Osbourne verdingte sich eine Zeitlang sogar als Leichenwäscher. Als sie ihr Talent für die Musik entdeckten, wurden sie zu schwerreichen, vor allem aber mega-erfolgreichen Superstars. Eine Karriere, von der viele träumen. Die aber nur wenigen tatsächlich gelingt.

Von Kilsyth auf die Bühnen der Welt

Einer, der kurz davor ist, es geschafft zu haben, ist der Singer-Songwriter Tom Walker. Der wird 1991 in Kilsyth geboren, einem schottischen 10.000 Einwohner-Städtchen eine halbe Stunde entfernt von der Metropole Glasgow. Fußgängerzone, öffentliches Schwimmbad, ein kleines Krankenhaus, Tennis- und Golfplätze, vor allem aber jede Menge Natur – die Kilsyth hat alles, was seine rund 10.000 Einwohner zum Leben brauchen. Aber wie bei vielen anderen Orten auch liegt die Blütezeit von Kilsyth lange zurück.

Lange Geschichte

Wie bedeutend Kilsyth früher einmal war – davon zeugen die Forschungsergebnisse der Archäologie: Für die Römer, die vor rund 2.000 Jahre Teile Schottlands besetzt hielten, war die Gegend rund um Kilsyth strategisch wichtig: Vom Antoniuswall, den sie an der schmalsten Stelle Schottlands quer durch das Land erbauten, sind heute noch Überreste sichtbar. Von zwei Burgen, Jahrhunderte später unweit von Kilsyth erbaut, sind ebenfalls noch die Ruinen sichtbar. Schließlich fand in dieser Gegend eine der gewaltigsten Schlachten des 17. Jahrhunderts statt. Dass sich früher ein bedeutender Viehtreiberweg von Nord nach Süd durch den Ort schlängelte, erzählen sich allenfalls noch die Alten. Sie erinnern sich auch noch daran, dass Kilsyth einmal zwei Bahnhöfe hatte. Doch Züge halten hier lange nicht mehr. Der nächste Bahnhof liegt in Croy, dem nächstgelegenen Ort. Kurzum: Kilsyth ist ein hübscher, durchaus liebenswerter Ort, zwar nicht direkt am sprichwörtlichen A…rm der Welt. Aber sehen kann man den von hier aus doch schon sehr gut.

Rote Haare, roter Vollbart, Bier

Und weil man in Kilsyth sein Geld schon lange nicht mehr wie früher, nämlich durch Sticken, Weben und durch die Milchwirtschaft verdient, arbeiten viele der Einwohner in der Großstadt, also in Glasgow. Oder ziehen gleich ganz weg. So auch Tom, den es über die Stationen Northwich und London nach Manchester verschlägt. Seine schottische Herkunft (ok, könnte auch irisch sein) kann und will er aber nicht verleugnen: rote Haare, roter Vollbart, seine helle Haut und seine Leidenschaft für Bier lassen ihn schnell als Schotten erkennen. Und wenn er zu Besuch in Schottland ist, kramt er sogar seinen schottischen Akzent wieder hervor.

Papas Plattensammlung

Angeblich hielt Tom schon als Dreijähriger eine Gitarre in seinen Händen. Was nicht weiter verwundert: Denn Toms Vater war ein Hobbymusiker, Toms Schwester konnte nicht nur gut singen, sondern arbeitete auch als professionelle Flötistin. Statt aber selbst ein Instrument zu erlernen, macht sich Tom lieber über die Plattensammlung des Vaters her und entdeckt auf diese Weise die Musik von Ray Charles, The Police, Bob Marley, Foo Fighters, Muse, Underworld, Prodigy, UB40 und viele andere.

AC/DC

Schon als Neunjähriger (vielleicht auch mit zehn oder elf Jahren – selbst Tom erinnert sich nicht mehr genau) besucht er mit seinem Vater ein Konzert von AC/DC in Paris – die Initialzündung, um nun endlich selbst aktiv Musik zu machen. Innerhalb kürzester Zeit versucht er sich an Gitarre, Schlagzeug, Klavier und Bass und spielt später in verschiedenen Formationen mit. Und natürlich schreibt er auch erste eigene Songs.

Ausbildung und Studium

Um seine Fähigkeiten weiterzuentwickeln, besucht Tom eine Musikhochschule in der Nähe von Northwich, mindestens vier lange von seinem Geburtsort entfernt im Herzen Englands. Später wechselt er an das College of Creative Media in London (, das damals noch College of Contemporary Music hieß,) und belegt dort einen Studiengang für Songwriting und Varietékunst. Direkt in London zieht er in ein Haus mit Studio, in dem zwölf weitere Musiker leben, immer wieder proben und sich untereinander austauschen.

Straßenverkäufer

Weil bekanntlich der letzte Zehner doch immer fehlt, arbeitet Tom neben seiner Ausbildung ein Jahr lang als Straßenverkäufer. Außerdem, so Tom in einem Interview, habe er zwischenzeitlich auch bei Veranstaltungen als Betreuer an einem Fotoautomaten gearbeitet. Nicht die angenehmste Arbeit, vor allem, wenn man auf Betrunkene achten und denen erklären muss, wie sie die Fotokabine zu bedienen haben. (Weil Tom in besagtem Interview die Betrunkenen extra herausstellt, drängt sich, obwohl er davon kein Wort sagt, der Eindruck auf, er habe auch eventuelle „Hinterlassenschaften“ der Betrunkenen entfernen müssen, damit der nächste Nutzer nicht schon beim Betreten der Kabine auf dem Absatz wieder kehrt macht. Kein allzu angenehme Vorstellung…)

Sun Goes Down

Doch diese Zeiten sind längst vorbei: 2016 spielt ein nationaler Radiosender Toms Song „Sun Goes Down“, bei einer Probe steht ein Scout von Relentless Records auf der Matte und nur kurze Zeit später bekommt Tom dort nicht nur seinen ersten Plattenvertrag, sondern arbeitet auch mit Jim Abbiss zusammen, der bereits Alben der Arctic Monkeys und von Adele produziert hat.

Künstler des Monats

Noch im selben Jahr veröffentlicht Tom seinen offiziellen Debütsong „Fly Away with Me“, stellt 2017 eine akustische Version von „Just You And I“ vor, woraufhin ihn ein US-amerikanische Radio-DJ als „Künstler des Monats“ ausruft. Im heimischen UK wird der Song erst nach seiner Wiederveröffentlichung im Jahr 2019 zum Top 3-Hit.

Mit weiteren Singles erarbeitet sich Tom Walker den Ruf, ein wirklich guter Singer-Songwriter zu sein. Zu diesen Veröffentlichungen gehören (die EP) „Blessings“, sein bislang erfolgreichster Hits „Leave A Light“, das optimistische „What A Time To Be Alive“, die Kollaboration mit Rudimental „Walk Alone“, und das großartige, zusammen mit Zara Larsson eingespielte „Now Youre Gone“ sowie einige Remixe seiner Songs.

Auszeichnungen: Gold, Platin, Diamant

Auf rund 20 Singles summiert sich der Output des gebürtigen Schotten. Vor allem „Just You And I“ und „Leave A Light On“ erreichten enorme Verkaufszahlen. In Australien, Neuseeland, Kanada, Belgien, Dänemark, Norwegen, den Niederlanden, Italien, Frankreich, Spanien und Polen brachten diese Songs Tom Walker Goldene Schallplatten, Platin-Platten und sogar eine Diamantene Schallplatte ein.
2019 erschien Tom Walkers erstes Album, das den Titel der Erfolgssingle „What A Time To Be Alive“ trägt.

Alles selbst erlebt

Auffällig sind bei allen Songs die eingängigen Pop-Melodien, die zudem mal mehr oder weniger Spuren von HipHop, Reggae und Blues enthalten und die „die schottische Antwort auf Ed Sheeran“ mit herzerwärmender Stimme vorträgt. Das i-Tüpfelchen zum Erfolg allerdings dürfte die hohe Authentizität des Singer-Songwriters sein. Er fände es hart, über etwas zu schreiben, zu denen er keinen Bezug habe. Deshalb schreibe er nur über die Dinge, die auch in seinem Leben tatsächlich vorkämen, erklärt Tom im Interview. Alles andere würde sich für ihn falsch anführen.

Freaking Out

Ende Mai erscheint Toms zweites Album „I Am“. Nach „Burn“ ist „Freaking Out“ bereits die zweite Vorab-Auskopplung aus diesem Album – ein Song, bei dem Tom nicht nur in die Rolle des Ich-Erzählers schlüpft, sondern in dem es tatsächlich ein Stück weit um ihn selbst geht.

„Auf einer anderen Party, ich wollte nicht gehen.
Hundert Leute, die alleine trinken.
Du bist so hübsch und du willst, dass ich bleibe.
Aber in meinem Kopf bin ich schon zu Hause.
Wenn ich es vortäuschen könnte, ehrlich,
ich würde es tun.
Aber es gibt immer einen Teil von mir, der ausflippt.
All meine Ängste sind zum Ausflippen.
Ich wünschte, ich wäre weniger verklemmt
und ein bisschen mehr wie was auch immer.
Ich stolpere über alle meine Entschuldigungen,
nur um an einen anderen Ort zu gelangen,
an dem ich nicht sein will.“

Aufgewühlt

Auf den ersten Blick scheinen die Inhalte von „Freaking Out“ ziemlich unklar und durcheinander zu sein. Das müssen sie auch. Denn sie spiegeln das Innere eines Menschen, der völlig zerrissen ist. Einerseits genießt er es, auf einer Party zu sein und dort auf zumindest einen Menschen zu treffen, der an ihm interessiert ist. Andererseits überwiegen die Ängste, die ihn zu einem Außenseiter machen. Denn so sehr er sich auch wünscht, nicht verklemmt zu sein, so wenig kann er gegen dieses Gefühl angehen. So stammelt er schließlich Entschuldigungen, führt sogar die Aufmerksamkeitsstörung ADHS als Ursache an. Weil es ihm nicht gelingt, andere und vor allem sich selbst über seine Ängste hinwegzutäuschen, wünscht er sich, ganz weit weg zu sein, am liebsten allein zu Haus.

Angst und Überforderung

Mit „Freaking Out“ spricht Tom Walker ein Gefühl an, das viele kennen: nämlich mit großen Ängsten umzugehen, die sich breitmachen, sobald man sich in soziale Situationen hineinbegibt. Das Schlimmste aber: Weil sich die Kämpfe im Inneren abspielen, für andere Menschen folglich verborgen sind, ist das Verhalten nicht nachvollziehbar. Im Song heißt es:

„Ich bin ein wenig überfordert mit mir selbst,
ertrinke im eigenen Elend.
Und ich weiß, du kannst das nicht verstehen.
Ich flippe aus,
bin ziemlich durch den Wind,
ziehe mich zurück.
Ich täusche ein Lächeln vor, beruhige dich,
aber ich weiß, du kannst es nicht verstehen.“

Auftritt versemmelt

Offen spricht Tom Walker davon, dass er selbst in und nach der Corona-Pandemie unter massiven Angstzuständen gelitten habe. Nach dem Lockdown wieder vor Publikum aufzutreten, habe ihn eine viel Kraft gekostet. Seine Stimme habe nicht funktioniert, er habe Gitarrenparts verpatzt, kurzum: Diese soziale Situation, also die Konfrontation mit dem Publikum, war für den Musiker eine gewaltige Erfahrung, die ihm eine Menge abverlangt hat. Er habe sich überhaupt nicht wie er selbst gefühlt, habe wirklich kämpfen müssen, um wieder dahin zu kommen, wo er sein wollte, so der Sänger in der Rückschau.

Ängstliche Seele

Und: Er sei eine ängstliche Seele, die versuche, nach Hause zurückzukehren, schreibt Tom in den sozialen Medien. Er sei gesegnet, die Liebe seiner Familie zu erfahren. Und er sei unsterblich in eine Frau verliebt, die ihm Halt gebe und ihn trage.

Genau diese Erfahrung soll „Freaking Out“ transportieren: So wie Tom seine Ängste überwunden hat, kann jeder seine Ängste überwinden und hinter sich lassen. Hilfreich ist es dabei, an sich selbst zu glauben und Personen in seinem Leben zu haben, auf die man sich verlassen kann.

Hilfe suchen

Wie es scheint, schließt Tom dabei auch „höhere Mächte“ nicht aus: Denn Songs über Segensgrüße und Engel gehören genauso zum Repertoire des Musikers wie der lockere Spruch, den er vor ein paar Jahren bei einem Konzert in Glasgow vom Stapel ließ: Jesus sei ganz bestimmt in dieser Gegend geboren! Ein Spruch, der zwar eindeutig nicht ernst gemeint war. Aber einer, der in einer Gegend, die in den vergangenen drei Jahrhunderten zahlreiche Bewegungen zur Wiederbelebung des Christentums hervorgebracht hat, doch einen ganz besonderen Klang hat.

Tom Walker – Freaking Out

Der bei Radio Salü gesendete Beitrag ist eine Kurzfassung dieses Textes.

Kommentare

Hinterlassen Sie ein Kommentar

Datenschutz
Ich, Klaus Depta (Wohnort: Deutschland), verarbeite zum Betrieb dieser Website personenbezogene Daten nur im technisch unbedingt notwendigen Umfang. Alle Details dazu in meiner Datenschutzerklärung.
Datenschutz
Ich, Klaus Depta (Wohnort: Deutschland), verarbeite zum Betrieb dieser Website personenbezogene Daten nur im technisch unbedingt notwendigen Umfang. Alle Details dazu in meiner Datenschutzerklärung.